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Frag die Toten

Frag die Toten

Titel: Frag die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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nicht mehr aufhören. Sie war so unglaublich traurig. Und nicht nur traurig.
    Sie war in Panik.
    Sie wusste, dass ihr Vater sie sehr liebte. Glaubte es von ganzem Herzen. Doch es war ihr kein Trost. Nicht jetzt.
    Er hatte ihr gesagt, was sie sagen sollte. War es mit ihr durchgegangen.
    »Deine Mutter ist einkaufen gefahren, und mehr wissen wir nicht«, hatte er gesagt. »Sie ist losgefahren wie immer. Alles Mögliche kann passiert sein. Vielleicht ist sie mit einem anderen Mann durchgebrannt oder –«
    »Das würde Mom nie tun«, hatte Melissa schniefend gesagt. Hatte sie das Wort »Mom« womöglich ein bisschen zu sehr betont? Würde ihrem Vater das vielleicht zu denken geben? Sie hatte ihn einmal mit einer Frau aus einem Motel kommen sehen, ihn aber nie darauf angesprochen, nie auch nur angedeutet, dass sie ihm auf die Schliche gekommen war.
    Wenn ihm etwas an ihrer Betonung aufgefallen war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich und sie auf die Pressekonferenz vorzubereiten. Er drillte ihr die Geschichte ein, die sie der Polizei zu erzählen hatte. Denn dass die Polizei sie befragen würde, darauf konnte sie Gift nehmen.
    »– oder vielleicht war’s dieser Kerl, der Frauen überfällt und ihnen das Auto raubt, kann auch sein. Es gibt so viel, was passiert sein kann. Es gibt so viele Verrückte auf der Welt. Die Polizei wird alle möglichen Theorien entwickeln, und wenn sie den Fall nicht aufklären können, dann wird er halt nicht aufgeklärt.«
    »Ja.«
    »Das Wichtigste ist, dass du nichts weißt. Du hast keine Ahnung. Du warst an diesem Abend allein zu Hause. Das ist alles, was du weißt. Haben wir uns verstanden?«
    »Ja, Daddy.«
    Sie kroch ins Bett, rollte sich auf die Seite, legte den Kopf aufs Kissen. Zupfte ein paar Tücher aus dem Spender auf ihrem Nachttisch und wischte sich die Augen ab.
    Das Telefon läutete.
    Sie dachte, es sei ihr Vater, und hob ab, ohne auf die Nummer zu achten.
    »Hallo?«
    »O Gott, Mel? Bist du das?« Ihre Mitbewohnerin Olivia.
    »Ja, ich bin’s.«
    »Ich hab’s gerade auf Facebook gelesen, das über deine Mom, o Gott, was ist denn passiert?«
    »Sie ist nicht mehr da«, sagte Melissa und merkte sofort, dass das irgendwie zu endgültig klang.
    »Wie – nicht mehr da?«, fragte Olivia.
    »Ich weiß auch nicht, sie ist Donnerstagabend einkaufen gefahren, und seither haben wir sie nicht mehr gesehen. Ich war allein zu Hause, ich hab gar nichts mitgekriegt.«
    So wie ihr Vater es ihr eingetrichtert hatte.
    »Aber, ich meine, was glauben die denn, was ihr zugestoßen ist?« Olivia ließ nicht locker. »Hatte sie einen Unfall? Ist ihr Wagen irgendwo von der Straße abgekommen, und sie haben ihn noch nicht gefunden?«
    »Ich weiß es doch nicht. Wir wissen gar nichts. Wir wollen nur … Wir hoffen einfach, dass die Polizei sie findet.«
    »Was kann ich denn tun? Kann ich was für dich tun? Es tut mir schrecklich leid, dass ich nicht bei dir bin. Wie geht’s deinem Vater? Wie kommt er damit klar?«
    Ach, dem geht’s gut, dachte Melissa.
    »Ich kann jetzt nicht mehr reden«, sagte sie. »Ich muss Schluss machen.«
    »Ja, aber was ist mit –«
    Melissa legte auf.
    »Ich kann das nicht«, sagte sie zu sich.
    Wenn ein paar Fragen ihrer Mitbewohnerin sie schon überforderten, wie sollte sie die nächsten Tage, Wochen, Monate überstehen? Wie sollte sie dieses Geheimnis für sich behalten? Wie lange würde es dauern, bis sie mit der Wahrheit herausrückte?
    Was hatte ihre Mutter ihr immer wieder gesagt?
    »Du musst dein Leben führen, als ständest du dauernd unter Beobachtung. Benimm dich so, dass du dich für nichts zu schämen brauchst.«
    Sie rollte sich auf die andere Seite, dann wieder zurück. Mit dem Babybauch war es schwierig, eine bequeme Stellung zu finden. Schließlich warf sie die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Den Kopf in die Hände gestützt, saß sie auf der Bettkante.
    »Ich kann das nicht«, wiederholte sie. »Ich muss tun, was sich gehört. Egal, wer darunter leidet.«
    Sie überlegte, ob sie einen Anwalt anrufen sollte, doch sie kannte keinen. Sie wollte sich nicht irgendeinen x-beliebigen aus dem Telefonbuch suchen. Vielleicht sollte sie Lester anrufen. Ein Zahnarzt kannte wahrscheinlich einen Anwalt. Wurden Ärzte und Zahnärzte nicht ständig verklagt? Aber wozu eigentlich? Wenn sie die Wahrheit sagen wollte, brauchte sie dann einen Rechtsbeistand?
    Melissa beschloss, als Erstes

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