Frag die Toten
Schlaf, und Marjorie hatte eine Eingebung. Wenn sie den Tod des armen alten Garnett nicht meldete und seine Leiche entsorgte, konnte sie jeden Monat seinen Rentenscheck einlösen und das Geld behalten. Wenn sie das Zimmer auch noch weitervermietete, konnte sie die ganze Rente kassieren.
Mit Hilfe von Keisha – die jetzt ein Teenager war – schaffte Marjorie die Leiche eines Nachts aus dem Haus und vergrub sie am Rande von Middlebury im Wald. Keisha hatte auch die Aufgabe, die Schecks zu unterschreiben, wenn sie mit der Post kamen. Ihre Mutter, die selbst eine sehr zittrige Hand hatte, bestand darauf, dass die Unterschrift genau wie die von Garnett aussehen musste, und ließ Keisha lange üben, ehe sie den Scheck endlich unterschreiben durfte.
Im nächsten halben Jahr starben zwei weitere Heimbewohner. Der Schwindel weitete sich aus. Marjorie kassierte mittlerweile drei Rentenschecks zusätzlich zu ihrem Gehalt als Heimleiterin.
Sie führten ein recht angenehmes Leben, bis eines Tages eine Frau hereinschneite, die den Kontakt zu ihrem lange verschollenen Onkel Garnett wiederbeleben wollte. Als sie ihn nicht fand, kündigte sie an, zur Polizei zu gehen und ihn als vermisst zu melden.
»Pack deine Sachen«, hatte Marjorie ihrer Tochter zugeflüstert, kaum dass die Frau aus dem Haus war. »In fünf Minuten verlassen wir die Stadt.«
Sie war der Polizei immer einen Schritt voraus. Als Marjorie an Leberkrebs starb, hatte sie keinen einzigen Tag im Gefängnis gesessen.
Keisha hatte gewusst, dass es unrecht war, aber was hätte sie tun sollen? Ihre Mutter anzeigen? Und dann?
Sie hatte also vielleicht nicht die besten Karten, wenn es darum ging, sich ihren Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu verdienen, aber das heute, tja, wenn sie das jetzt nicht wachgerüttelt hatte! Es musste doch etwas geben – etwas Legales –, bei dem sie ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen konnte.
Politik vielleicht.
Beinahe hätte sie gelacht. Wenn sie es recht bedachte, hatte sie, wenn auch in den verschiedensten Abwandlungen, immer dasselbe getan. Sie hatte sich dafür bezahlen lassen, in den Leuten die haarsträubendsten Erwartungen zu wecken: dass sie ihnen helfen könne, mit toten Angehörigen zu reden. Dass sie ihnen einen Blick in die Zukunft ermöglichen könne, indem sie die Sterne befragte. Dass sie ihre hellseherischen Gaben nutzen könne, um Vermisste zu finden.
Wenn sie den Leuten so einen Mumpitz verkaufen konnte, dann doch wohl auch Autos? Oder Versicherungen? Oder Auslegeware?
Natürlich konnte sie es. Nicht nur konnte sie, sie musste auch. Aber nicht ihretwegen. Für Matthew musste sie es tun.
Hinter Gittern war sie als Mutter nicht zu gebrauchen.
Sie musste das sprichwörtliche neue Kapitel aufschlagen. Sie musste Kirk loswerden. Doch als Allererstes musste sie sich aus der Klemme ziehen, in die sie sich heute gebracht hatte. Dann konnte sie sich Gedanken machen, wie es beruflich mit ihr weitergehen sollte. Sich neue Klamotten zulegen. Weniger auffällig, eher konservativ. Keine Papageienohrringe mehr. Eine neue Frisur vielleicht. Einen seriöseren Stil. Und natürlich brauchte sie auch neue Visiten…
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein
.
Sie hatte ihm ihre Karte gegeben. Und Wendell Garfield hatte sie sich in die Hemdtasche gesteckt.
[home]
Zwanzig
K irk öffnete die Beifahrertür von Keishas fünfzehn Jahre alter koreanischer Schrottkiste und stellte den Müllsack in den Fußraum. Die Sitze waren hellbraun, es war also keine Hexerei, das Blut auf dem Fahrersitz auszumachen. Er holte einen Behälter mit Feuchttüchern aus seinem Pick-up – er hatte eine Komplettausstattung von Autoreinigungsmitteln hinter den Sitzen – und wischte mit dem ersten den Griff der Fahrertür von Keishas Wagen ab. Als auch der Griff an der Innenseite geputzt war, wandte Kirk sich dem Sitz zu. Er verbrauchte gut zwanzig Tücher, die er auch in sämtliche Ritzen und Spalten stopfte. So viel Blut war da gar nicht, aber er wusste, dass der Polizei auch ein klitzekleiner Spritzer reichte, um seine Freundin dranzukriegen.
Familien-Duell
war schließlich nicht das Einzige, was er sich ansah. Er wusste Bescheid.
Auf den Tüchern, mit denen er das Lenkrad abwischte, fand sich schon deutlich mehr Blut. Klar, Keishas Hände waren ja total verschmiert gewesen. Er stopfte alle benutzten Tücher in den Müllsack, den er noch nicht zugebunden hatte. Endlich war er sich sicher, dass das Wageninnere nicht nur von Blut gereinigt, sondern so
Weitere Kostenlose Bücher