Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Vergnügen bereiten würde mit anzusehen, wie Jugend und List diesen alten, zähneklappernden Schafsbeschäler übertölpelten. Wie immer fragte sich Zakar Ba’al, wo Cheftu wohl stecken mochte. In den vergangenen tausend Jahren hätten sich ihre Wege mindestens hundertmal kreuzen müssen; Cheftu war bestimmt nicht tot, denn keine weise Frau hatte jemals seine Seele unter den Schattenwesen entdeckt.
Es war ein Mysterium, das einzige Mysterium, das Zakar Ba’al nicht enthüllen konnte. Er wandte sich an den Schiffskapitän, der an seiner Seite stand. Hinter den wie Honigwaben durchlöcherten Hügeln von Tsor stieg das Licht der Morgendämmerung auf. Dion verzehrte sich nach einer Veränderung, nach Lebendigkeit, nach etwas oder jemandem, der seinen Verstand und seine Willenskraft stimulierte, der ihn herausforderte.
Was nutzte einem das Geschenk der Unsterblichkeit, wenn die Lust am Leben fehlte?
Er machte eine Geste, der Kapitän rief einen Befehl, das Schiff setzte Segel.
Lasst mich aus dem Vollen leben oder tötet mich, bat Dion die Götter.
Ich war nervös. Hinter diesem Vorhang wartete Cheftu - Cheftu, mein teuerster Freund, mein Gefährte, der Geliebte, der tief in meiner Seele wohnte.
Mein Blick huschte noch einmal zu dem Bild im Wasserspiegel zurück. So hatte er mich noch nie gesehen. Ich war groß und blass, und mein grünes Futteralkleid ließ meine Augen noch grüner wirken. Sie waren von Bleiglanz umrahmt, und ich hatte meine Lippen mit Granatapfelsaft gerötet. Der runde Halsausschnitt des Kleides wurde von einer goldenen Halskette hervorgehoben. Dazu hatte ich passende Ohrringe in
Tropfenform angelegt. Ein Haarband in Grün, Gold und Braun hielt mein glattes, kupferrotes Haar zurück.
Meine Hände begannen zu zittern, als ich Tameras Stimme hörte: »Meeresherrin, dein Sklave erwartet dich.«
Ich krächzte mühsam eine Antwort hervor. Instinktiv postierte ich mich zwischen zwei Lampen. Dadurch war ich im Vorteil und konnte mit absoluter Gewissheit feststellen, ob dies Cheftu war. Mein Blut hatte ihn längst erkannt, es sauste nur so durch meinen Körper; doch ich wollte mich auch mit dem Verstand davon überzeugen.
Plötzlich stand er vor mir, so stolz und schön, dass ich am liebsten geheult hätte. Er sagte nichts, er sah nirgendwohin, er stand einfach nur da. Mein Blick liebkoste die Muskeln, die über seinen Schulterblättern verschmolzen, die Aderstränge, die sich von seinen einzigartigen Händen über die Arme hinaufzogen.
Morgen würde ich seine Hände malen - so wie ich es seit zwei Jahren vorhatte.
Sein Bauch war so eingefallen, dass man die Rippen zählen konnte. Mein armer Geliebter war halb verhungert. Sein Blick lag wie festgefroren auf meinem Knie oder der Lampe oder etwas anderem knapp über dem Boden. Ich atmete schwerer; es kam mir so vor, als sei in diesen kurzen Augenblicken eine ganze Ewigkeit verstrichen. Hatte ich Angst?
Ganz ehrlich - ja. Er hatte mich noch nie in diesem Körper gesehen. Er war noch nie zuvor Sklave gewesen. Würde er glauben, dass ich es war? Was sollte ich jetzt machen? Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. »Ch-Cheftu?«, flüsterte ich und machte einen Schritt auf ihn zu.
Sein Gesicht erschlaffte, als er meine Stimme hörte, dann zuckte sein Blick zu meinen Augen hoch.
»Mon Dieu«, flüsterte er und musterte mich mit riesigen Augen von Kopf bis Fuß. »Chloe?«
Ich nickte, unfähig, noch einen Schritt zu machen, weil ich so
zitterte.
Er sank auf die Knie. »Grâce à Dieu«, hauchte er mit erhobenen Händen. Dann richtete er sich wieder auf, und schon lag ich in seinen Armen und lernte von neuem kennen, was mein Körper längst zu wissen schien, mein Verstand und mein Herz jedoch so schnell vergaßen: die Hitze, die Leidenschaft, das Gefühl von Heimkehr in seinen Geruch, seine Berührung, seinen Geschmack.
Mein Herz flog auf und setzte all die Gedanken, Ängste und Gefühle frei, die ich mühsam unter Kontrolle behalten hatte. Ihn in den Armen zu halten, sein Herz an meinem schlagen und die Hitze seines Blutes unter meinen Händen zu spüren war ein Wunder. Eng umschlungen standen wir da und machten uns erneut mit dem Körper des anderen vertraut.
Auch seine Hände zitterten; auch er atmete schwer. »Ich hatte schon Angst«, sagte er, »ich wusste ja nicht -«
Ich wich zurück und drehte seinen Kopf so, dass er mich ansah. Seine bernsteingelben Augen lagen unter einem wässrigen Schleier. »Alles wird gut«, sagte ich
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