Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
würden.
Morgen früh würde ich mich verdrücken. Mein guter Wille, morgen auf dem Hügel zu stehen, war in Daduas Lagerfeuer dahingeschmolzen. Das würde nicht das Geringste bringen. Wir mussten von hier verschwinden.
Wo war Cheftu?
RaEm drehte sich zur Seite und zeigte sich dem Künstler im Profil, obwohl ihr klar war, dass er ihr Gesicht jenem Echna-tons angleichen würde.
In Wahrheit gab es keinen Semenchkare. Doch andererseits gab es auch keine Ma’at.
Beide wurden durch Echnatons Begierden neu interpretiert.
Der Begriff und die Göttin, die früher das universelle Gleichgewicht symbolisiert hatten, standen jetzt für »Offenheit« und »Individualismus«. Semenchkare, ein krummbeiniger Knabe mit erdfarbener Haut, war verscharrt worden, während sich der neue Semenchkare erhoben hatte: RaEm.
»Es reicht, mein, ähm, Semenchkare«, verkündete der Künstler und zog sich rückwärts zurück. RaEm entließ ihn mit einem
Winken.
»Pharaos Tochter Meritaton wünscht eine Audienz«, kündigte RaEms Zeremonienmeister an.
»Welche ist sie?«
»Anchenespa’atons Schwester. Die ebenselbe, die dich schon früher besucht hat, meine ... mein Semenchkare.«
RaEm wünschte, irgendjemand würde sich ein Herz fassen, ihr Geschlecht aufs Geratewohl zu bestimmen und dadurch dem Raten ein Ende zu machen. Manchmal war sie selbst nicht mehr sicher. War sie nun Frau oder Mann? Machte das einen Unterschied? So oder so gehörte ihr Pharaos Herz und Leib, wenigstens im Augenblick. »Sonst noch jemand? Ich habe nicht den Wunsch, Meritaton jetzt zu sehen.«
Der Zeremonienmeister, ein steifer alter Knacker, dem ständig die Perücke verrutschte, räusperte sich.
»Die Königinmutter, Tiye, deine Mutter, wünscht dich zu sehen.«
Einen Moment blieb es still.
»Ich werde Meritaton empfangen.«
Wenig später ließ man das Mädchen vor, ein zerbrechliches Geschöpf, das auf Grund seiner extrem schlechten Augen nicht einmal erkennen konnte, dass RaEm in Wahrheit eine Frau war. Doch andererseits war das an Echnatons Hof, wo selbst Pharao Brüste und einen Phallus besaß, bei vielen schwer festzustellen.
»Der Segen des großen Gottes Aton sei heute Morgen mit dir, Cousin Semenchkare.« Die melodiöse Stimme des schmächtigen Kindes war kaum mehr als ein Flüstern. Es war kaum zu glauben, dass ein so energischer Mann wie Echnaton als Töchter derart farblose Würmer gezeugt hatte.
»Mit dir desgleichen, Meritaton.« RaEm stand aus ihrem Stuhl auf. »Möchtest du deinen Mund parfümieren, Cousine?«
Meritaton blickte auf, mit ausdruckslosen, großen braunen Augen. »O ja. Das ist sehr fürsorglich von dir, Herr.«
RaEm erstickte ein Lächeln und warf dem Zeremonienmeister einen Blick zu. »Du bist ein zu empfindsamer Lotus, um dir weniger angedeihen zu lassen«, wiegelte sie ab. Nach einem weiteren Blick wurde ihnen etwas zu essen gebracht.
Gewässerter Wein, krümeliges Gebäck und angematschtes Obst. RaEm hätte das Zeug zum Fenster hinausgeworfen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass dies das Beste war, was die Küche zu bieten hatte. Nur dieser Gedanke hielt sie davon ab.
Sie ließ sich neben einem leopardenköpfigen Tisch nieder und befahl mit einem Winken, einen Hocker für Meritaton zu bringen. Das Mädchen setzte sich und strich dabei an RaEm vorbei. Aus der Nähe betrachtet, war sie auf puppenhafte Weise hübsch. Sie hatte runde Augen, und ihr Kinn war spitz wie das ihres Vaters. Die kurze Perücke auf ihrem Kopf brachte ihren dünnen Hals zur Geltung.
So leicht abzuknicken, dachte RaEm. Sie schenkte dem Mädchen Wein ein.
»Hast du deine Mutter schon besucht?«, fragte Meritaton leise.
»Noch nicht.« RaEm hatte geflissentlich vermieden, Tiyes Weg zu kreuzen, während sie daran gearbeitet hatte, Echnaton mit Leib und Seele an sich zu fesseln. Es war ein Wunder, dass sie nach den Nächten mit ihm überhaupt noch laufen konnte. Bald jedoch würde sie der Frau gegenübertreten müssen.
Würde sie alles durchschauen?
Der gegenwärtigen Mode folgend trug RaEm alias Semench-kare ein Hemd und einen Schurz, eine androgyne Perücke sowie Goldgeschmeide. Während der drei Wochen, die sie in der Wüste verbracht hatte und während derer sie beinahe an der Umsetzung ihres Planes zu Grunde gegangen wäre, war sie noch dünner und damit knabenhafter geworden.
Ihre Brüste waren seither kleiner, und ihre Hüften wirkten weniger fraulich.
Sie sah fast aus wie Echnaton.
Und genau darum konnte er ihr nicht widerstehen. Er
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