Frankenstein oder Der moderne Prometheus
Gleichgültigkeit. Endlich
erreichte ich Straßburg, woselbst ich zwei Tage auf Clerval zu
warten hatte. Und er kam. Aber was für ein Unterschied bestand
zwischen und beiden. Er freute sich der Natur und war glücklich,
wenn er die Sonne glühend untergehen oder sie rosig emporsteigen
sah. Er machte mich auf die wechselnden Farben in der Landschaft
und am Himmel aufmerksam. »Nun weiß ich, wie schön das Leben ist!
Und ich freue mich dieses Lebens!« rief er aus. »Aber du, lieber
Frankenstein, warum siehst du so traurig und besorgt in die Welt?«
Tatsächlich erfüllten mich quälende Gedanken und ich hatte keinen
Sinn für das Aufleuchten des Abendsterns oder das goldige Blinken
der Sonne in den Wellen des Rheins.
Kapitel 19
Unser nächstes Reiseziel war London. Wir hatten uns vorgenommen,
einige Monate dort zu verbringen. Clerval war es sehr darum zu tun,
mit all den Männern von Ruf zusammenzukommen; für mich allerdings
standen andere Dinge im Vordergrunde. Ich wollte mir vor allem die
nötigen Informationen holen, um dann unverzüglich ans Werk gehen zu
können. Ich beeilte mich deshalb, von den Empfehlungsbriefen an die
namhaftesten Naturphilosophen, die man mir mitgegeben, Gebrauch zu
machen.
Hätte ich diese Reise zur Zeit meiner ersten Studien, wo ich
noch glücklich war, unternommen, sie wäre mir sicherlich zu einer
reich sprudelnden Quelle der Freude geworden. Aber nun lag ein
düsterer Schatten auf meinem Leben und ich besuchte die Leute nur deshalb, um möglichst viel von dem zu
erfahren, war mir für die rasche Ausführung meines Planes not tat.
Fremde Gesichter waren mir eine Qual. Zwischen mir und meinen
Nebenmenschen sah ich eine unübersteigliche Schranke aufgerichtet,
und diese Schranke war vom Blute Wilhelms und Justines befleckt.
Die Erinnerung an die mit diesen Namen verknüpften Ereignisse
erfüllten meine Seele mit namenloser Angst. Nur Henrys Stimme
vermochte beruhigend auf mich einzuwirken und mir vorübergehend
Frieden zu verschaffen.
Das kam daher, daß ich in Clerval ein Abbild dessen sah, was ich
früher gewesen; er war wißbegierig und unermüdlich in seinem
Streben nach Erfahrung und Belehrung. Auch er hatte einen Plan, er
wollte nämlich Indien kennen lernen, weil er glaubte, daß er mit
seinen Kenntnissen der Sprache und Kultur jenes Landes der
europäischen Kolonisation und dem europäischen Handel nützlich sein
könne. Nur in England, meinte er, sei es ihm möglich, diesen Plan
seiner Verwirklichung zuzuführen. Er war viel beschäftigt, und das
Einzige, was ihn störte, war mein bekümmertes und trauriges Wesen.
Ich versuchte allerdings, es möglichst vor ihm zu verbergen, um ihm
nicht den Lebensgenuß zu verbittern, der ja so natürlich ist für
einen Mann, der in neue Verhältnisse kommt und den keine Sorgen und
trüben Gedanken quälen. Ich vermied es öfter ihn zu begleiten,
indem ich andere Verabredungen vorschützte, um allein sein zu
können. Ich begann allmählich das notwendige Material für meine
neue Schöpfung zu sammeln und jede einzelne Tätigkeit in dieser
Richtung bereitete mir Torturen, wie einzelne Wassertropfen, die
unaufhörlich auf jemandes Kopf herabfallen. Jeder Gedanke an mein
Vorhaben erregte mein Grauen und jedes Wort, das ich darüber zu
sprechen hatte, kam nur zögernd von den zitternden Lippen, während
mein Herz ängstlich klopfte.
Nachdem wir schon mehrer Monate in London geweilt hatten,
erhielten wir einen Brief von einem Herrn aus Schottland, den wir
früher einmal in Genf kennen gelernt hatten. Er pries die
Schönheiten seines Heimatlandes und frug an, ob diese nicht
imstande seien, uns zu einer Ausdehnung
unserer Reise in nördlicher Richtung zu veranlassen, bis Perth, wo
er seinen Wohnsitz hatte. Clerval redete mir eifrig zu, dieser
Einladung Folge zu leisten, und ich selbst sehnte mich danach,
wieder einmal Berge und Wasserfälle und all das Schöne zu sehen,
mit dem Mutter Natur ihre Lieblingsplätze zu schmücken pflegt. So
packte ich meine chemischen Apparate und das angesammelte Material
zusammen, um meine Arbeiten dann in irgend einem entlegenen Winkel
im Norden des schottischen Hochlandes zu vollenden.
Eine Woche später verließen wir London. Mir tat der Aufbruch
nicht leid. Hatte ich doch mein Vorhaben so lange hinausgeschoben,
daß ich die Rache des enttäuschten Dämons zu fürchten begann. Er
konnte ja in der Schweiz zurückgeblieben sein und nun seine Wut an
den Meinen auslassen, die meines Schutzes entbehrten.
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