Franley, Mark
und wir gehen davon aus, dass nach dem Mord noch jemand im Haus war. Wir haben die Arbeitstasche des Opfers gefunden. In dem dünnen Leder hat sich der Umriss eines, wie wir vermuten, Terminplaners, der immer an derselben Stelle platziert war, eingedrückt, und dieser ist jetzt weg. Außerdem gibt es unten im Keller einen kleinen Überwachungsraum für die Sicherheitsanlage der Villa, doch alle Speicher und Festplatten sind leer.«
Mike stutzte: »Und warum gehen Sie davon aus, dass noch jemand hier war? Es wäre doch ziemlich normal, dass der Täter seine Spuren verwischt hat, beziehungsweise Dinge mitgenommen hat!«
Wieder flackerte eine kurze Unsicherheit in Schmitz Gesichtszügen auf, diesmal aber nur kurz. Fast schon überheblich antwortete er: »Sie haben sicher Recht, Herr Hauptkommissar, aber nur wenn es auch normal ist, dass der Täter während der Tat die Handschuhe wechselt.« Der junge Mann machte eine Pause, die Böhmer auf die Palme brachte. Unbeherrscht blaffte er seinen Kollegen an: »Sollen wir jetzt raten, oder würden Sie uns liebenswürdigerweise sagen, wie Sie zu dieser Aussage kommen?«
»Natürlich«, antwortete Schmitz wieder etwas kleinlauter. »Es gibt zwei Arten von Abdrücken. Auf den Handschellen, ohne hinzusehen, deutete er zu Dr. Ravensteins Leiche, »sind ausschließlich Abdrücke von Fingern, die vermutlich in glatten Latex- oder Gummihandschuhen steckten. Unten im Keller dagegen deutete alles auf eine Art Lederhandschuh hin.«
Nun nickte Dr. Gruber: »Das passt!«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Böhmer.
Wie so oft holte der Rechtsmediziner etwas zu weit aus und erklärte irgendetwas von einer psychologischen Zusatzausbildung, und dass er sich ausgiebig mit Profiling beschäftigt hat, bis er endlich auf den Punkt kam. »Dieser Akt des Erdrosselns, noch dazu wie er ausgeführt wurde, passt überhaupt nicht zu dem Tod von dem Herren da drüben. Wer jemanden kreuzigt, will, dass sein Opfer demütig wird ... in diesem Fall auch demütig vor seiner Frau, und es macht keinen Sinn, die beiden so zu arrangieren und die Frau dann auch noch umzubringen. Er ...«, Gruber deutete zum Kamin, »sollte in Demut vor seiner Frau sterben, was ihr ...«, nun deutete er vor sich auf Frau Ravenstein, »in den Augen seines Mörders helfen sollte. Der Täter sieht sich als Erlöser und dachte, er habe damit auch diese Frau erlöst.« Dr. Gruber machte eine kurze Pause. »Wenn Sie mich fragen, hat Frau Ravenstein zu viel gehört und gesehen, daher wurde sie zum Schweigen gebracht.«
Einerseits war Mike froh endlich Hinweise zu bekommen, doch die Ausführungen des Gerichtsmediziners waren ihm zu spekulativ und setzten ihm Ideen in den Kopf, die vielleicht andere Gedanken überdecken könnten. Er musste offen für alles bleiben, daher forderte er Böhmer und Gruber auf, ihm so schnell wie möglich die Ergebnisse ihrer Arbeit zukommen zu lassen und verabschiedete sich dann von ihnen.
Die frische Luft vor der Villa empfing ihn wie eine reinigende Dusche und doch sollte es noch fast den ganzen Tag dauern, bis sich der süßliche Geruch in seiner Nase ganz verflüchtigt hatte.
Während einer Zigarette, die er noch vor dem Auto rauchte, beschloss er, mit Karl zu reden. Der Mord an Frau Ravenstein sah zu sehr nach Mafia aus, als dass man diesen Russen weiter ignorieren durfte, und auch die Beule an seinem Kopf erinnerte ihn immer wieder an die Begegnung mit dem Mann in der Kirche. Allerdings war er sich durchaus darüber im Klarem, dass der Russe in einer anderen Liga spielte, da konnte selbst die Kripo nicht so einfach »Guten Tag!« sagen. Er musste mit seinem Chef sprechen!
–22–
Ohne es zu wissen, erwachte Karla fast zeitgleich mit dem Rauchmelder in der Villa der Ravensteins. Von der wieder erwachten körperlichen Lust, die sie kurz vor dem Einschlafen verspürte, war nichts mehr übrig und doch hatte sich etwas verändert. All die Jahre war sie abends als die kleine Karla eingeschlafen und am nächsten Morgen wieder als die Frau mit anderem Namen, und den Verpflichtungen, die man als Erwachsener hat, wieder aufgewacht. Ausnahmslos jede dieser Nächte hatte sie zurück in diese Woche ihrer Kindheit geschickt, und ausnahmslos jeden Morgen hatte ihr Verstand wieder auf Normalbetrieb umgeschaltet. Doch nun, da sie dafür sorgte, dass die Narbe auf ihrer Seele verblassen konnte, traute sich die kleine Karla immer mehr aus ihrem Versteck und die kleine Karla hatte Zähne und Klauen bekommen.
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