Franley, Mark
Etage angekommen, öffnete sie die Treppenhaustür und warf einen Blick hinaus. Auch hier schalteten sich augenblicklich sämtliche Lampen ein und erhellten die einzige Wohnungstür, die es in dieser Ebene gab. Karla lauschte einige Sekunden angestrengt in Richtung der Wohnung, konnte aber kein Geräusch wahrnehmen. Dann zog sie die Tür wieder zu und folgte den Stufen noch eine Etage höher, wo diese vor einer Feuerschutztür endeten. Genau hier war auch die einzige Schwachstelle des Gebäudes!
Wie schon bei ihren ersten Erkundungsgängen ließ sich die Tür, die aus Brandschutzgründen noch nicht einmal ein Schloss hatte, mühelos aufdrücken. In dem alten Dachboden, dem einzig nicht renovierten Bereich des Hauses, war es angenehm dunkel. Nur der fast volle Mond schickte sein Licht durch die beiden kleinen Dachfenster und ließ Karla das Nötigste erkennen. Der Geruch hier oben erinnerte sie an das alte Haus ihrer Oma, was wehmütige Gedanken heraufbeschwor, denen Karla aber nicht nachgab. Die Narbe auf ihrer Seele war zwar bereits blasser geworden, aber ihr Ziel war es, sie ganz verschwinden zu lassen, und dazu musste sie konzentriert bleiben. Ihr Plan war perfekt, es lag nur an ihr, ihn auch perfekt auszuführen.
Nachdem sie einige Sekunden gewartet hatte, bis ihr Herz wieder mit seiner normalen Frequenz schlug, ging sie zu dem Dachfenster auf der linken Seite, zog die kurze Feuerleiter herunter und öffnete es. Schon als sie nur ihren Kopf aus der Luke schob, spürte sie, wie die gespeicherte Wärme von den Dachziegeln aufstieg, was einen weiteren Schweißschub auslöste und es schwer machen würde, keine DNA-Spuren zu hinterlassen.
Um der Wärme möglichst nicht zu lange ausgesetzt zu sein, schob sie sich zügig aus dem Fenster, kletterte die kurze Schräge bis zur Regenrinne hinunter und ließ ihren Körper, mit den Füßen zuerst und auf dem Bauch liegend, über die Kante gleiten. Frei hängend warf sie einen kurzen Kontrollblick nach unten, korrigierte ihre Position etwas und ließ los. Die Investition in teure Sportschuhe hatte sich rentiert, fast geräuschlos kam sie auf Hausners riesiger, halb überdachter Dachterrasse auf, wo sie sicherheitshalber erst einmal hinter einem der Korbmöbel in Deckung ging.
Erst als sie sicher war, dass alles ruhig blieb, wagte sie es sich aufzurichten und zu der großen Panoramascheibe zu schleichen. Der Raum dahinter lag im Dunkeln, nur ein paar Kontrolllämpchen von technischen Geräten sorgten dafür, dass man das Nötigste erkennen konnte.
Wegen der hohen Temperaturen hatte der Anwalt die Scheibe einen Spaltbreit offen gelassen und Karla hatte somit leichtes Spiel. Ohne die Schiebetür bewegen zu müssen, schob sie sich hindurch, blieb drinnen ganz ruhig stehen und lauschte in die Wohnung. Zunächst war nichts zu hören, doch dann nahm sie es wahr. Das leise Schnarchen schien aus der offenen Tür, von der rechten Seite des Raumes, zu kommen. Karla, die immer noch an der Schiebetür stand, machte einen Schritt nach vorne, kam aber nur einen halben weit und wurde dann wieder zurückgerissen.
Sie dachte nicht darüber nach, sondern machte die Drehung aus einem Reflex heraus, was alles nur noch schlimmer machte. Mit einem viel zu lauten Geräusch riss die Naht des Vorhangs und dieser sank wie in Zeitlupe auf sie herunter. Sie wurde nicht angegriffen, der Vorhang hatte sich schlicht an dem Reißverschluss ihres kleinen Rucksacks verhakt.
Das Schnarchen setzte einige Sekunden lang aus und Karla traute sich nicht, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Wie lange sie so dastand, hätte sie später nicht mehr sagen können, doch es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich sicher genug fühlte, um weiterzumachen. Mit langsamen, bedachten Bewegungen befreite sie sich erst von dem Vorhangstoff, dann nahm sie alles Nötige aus dem Rucksack heraus und schlich zu der Tür, aus der die Geräusche kamen. Die halb heruntergelassenen Rollos ließen genügend Mondlicht herein, um den Anwalt deutlich erkennen zu können, und unter Karlas Maske legte sich ein böses Grinsen über ihr Gesicht.
–30–
Das milchige Licht am Horizont kündigte bereits den neuen Tag an, als sich Karla erschöpft in ihr Bett legte. Langsam machten sich ihre nächtlichen Ausflüge bemerkbar, doch diese Erschöpfung war nichts gegen all die Jahre, in denen sie wegen der Angst vor ihren Alpträumen nicht geschlafen hatte. Mit einem Anflug von Zufriedenheit schloss sie die Augen und im selben
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