Franzen, Jonathan
ganzen Tag gelernt.»
«Tut mir
leid, dass ich dich davon abgehalten habe», sagte Patty mit depressivem Ernst.
«Nein,
schon gut», sagte Jessica. «Ich wollte ja, dass du kommst. Ich wollte, dass du
siehst, wo ich vier Jahre meines Lebens verbringen werde. Wir haben bloß ein
ganz schönes Pensum zu bewältigen.»
«Ja,
natürlich. Das ist toll. Es ist toll, dass du das alles schaffst. Ich bin so
stolz auf dich. Wirklich, Jessica. Du hast meine volle Bewunderung.»
«Naja,
danke.»
«Es ist
nur - wie wär's, wenn wir in mein Hotelzimmer gehen? Es wird dir gefallen. Wir
können uns vom Zimmerservice etwas bringen lassen, Filme gucken und die Minibar
plündern. Das heißt, du kannst die
Minibar plündern, ich trinke heute Abend nichts. Einfach, damit wir mal einen
Frauenabend haben, nur wir beide, einen Abend lang. Lernen kannst du noch den
ganzen Herbst.»
In
Erwartung von Jessicas Urteil hielt sie den Blick gesenkt. Ihr war schmerzlich
bewusst, dass sie etwas vorschlug, das für sie beide neu war.
«Ich
glaube, ich sollte wirklich besser lernen», sagte Jessica. «Ich hab's William
versprochen.»
«Ach,
komm, Jessica, bitte. Ein Abend wird dich schon nicht umbringen. Es würde mir
sehr viel bedeuten.»
Als
Jessica darauf nicht antwortete, zwang Patty sich, hochzuschauen. Ihre Tochter
starrte mit verzweifelter Selbstbeherrschung auf das Hauptgebäude, an dessen
einer Außenwand Patty einen Stein entdeckt hatte, in den ein weiser Spruch der
Collegeabgänger von 1920 eingemeißelt war: nutze deine F reiheit wohl.
«Nein?»
«Nein»,
sagte Jessica, ohne sie anzusehen. «Nein! Ich habe keine Lust dazu.»
«Es tut
mir leid, dass ich gestern zu viel getrunken und so dummes Zeug geredet habe.
Ich wünschte, du würdest mir die Chance geben, es wiedergutzumachen.»
«Ich will
dich ja damit nicht bestrafen», sagte Jessica. «Aber da du ganz offensichtlich
mein College nicht magst und auch meinen Freund nicht -»
«Nein, er
ist in Ordnung, er ist nett, ich mag ihn. Aber ich bin nun mal hergekommen, um
dich zu sehen, nicht ihn.»
«Mom, ich
mache dir das Leben so leicht. Ist dir überhaupt klar, wie leicht ich es dir
mache? Ich nehme keine Drogen, ich baue nicht so einen Mist wie Joey, ich
blamiere dich nicht, ich zicke nicht rum, nichts
davon habe ich jemals getan -»
«Das weiß
ich doch! Und ich bin dir aufrichtig dankbar dafür.»
«Gut, aber
dann beschwer dich bitte nicht, wenn ich mein eigenes Leben mit meinen eigenen
Freunden führe und keine Lust habe, deinetwegen plötzlich alles umzustellen. Du
profitierst in jeder Hinsicht davon, dass ich allein zurechtkomme - das
mindeste, was du tun kannst, ist, mir deswegen kein schlechtes Gewissen einzureden.»
«Jessie,
es geht doch nur um einen Abend. Es ist doch albern, deswegen so ein Theater zu
machen.»
«Dann mach
keins.»
Jessicas
Selbstbeherrschung und kühle Reserve schienen Patty eine gerechte Strafe dafür
zu sein, wie kompromisslos und kalt sie mit neunzehn ihrer eigenen Mutter
gegenüber aufgetreten war. Ja sie hatte ein derart schlechtes Gewissen, dass
sie nahezu jede Strafe angemessen gefunden hätte. Und so sparte sie sich ihre
Tränen für später auf - sie hatte das Gefühl, sie verdiene den
emotionalen Vorteil nicht, den sie vielleicht daraus hätte schlagen können,
jetzt zu weinen oder schmollend zum Bahnhof zu rennen -, übte sich ihrerseits
in Selbstbeherrschung und nahm mit Jessica und deren Zimmergenossin ein frühes
Abendessen in der Cafeteria ein. Sie verhielt sich wie eine Erwachsene, auch
wenn sie das Gefühl hatte, dass von ihnen beiden Jessica die Erwachsenere war.
Zurück in
St. Paul, setzte sie die Talfahrt im Minenschacht ihrer seelischen Verfassung
fort, und von Richard kamen keine E-Mails mehr. Die Autobiographin würde ja
gern berichten, dass Patty ihm auch keine E-Mails mehr schickte, aber
inzwischen sollte wohl deutlich geworden sein, dass ihre Fähigkeit, Irrwege zu
beschreiten und sich selbst zu quälen und herabzusetzen, schier grenzenlos ist.
Die einzige Nachricht, für die sie sich nicht schämen zu müssen glaubt, schrieb
sie, nachdem Walter ihr mitgeteilt hatte, Molly Tremain habe sich in ihrer Wohnung auf der Lower
East Side mit Schlaftabletten das Leben genommen. In dieser E-Mail
zeigte Patty sich von ihrer besten Seite, und sie hofft, dass Richard sie
genauso und nicht anders in Erinnerung behält.
Was
Richard in jenem Winter und Frühling sonst so machte, wurde an anderer Stelle
ausgeführt, insbesondere
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