Franzen, Jonathan
tat
sie ihr Bestes, Richards Beispiel zu folgen und ihn in die Vergangenheit zu
verbannen. Walters neue Energie hatte etwas Erregendes, fast
Teufel-von-Athenhaftes an sich, und es gelang ihr zu hoffen, sie beide könnten
in Washington noch einmal ganz von vorn anfangen. Sie liebte das Haus am
Namenlosen See wie eh und je, aber mit dem Haus an der Barrier Street, das Joey nicht hatte halten können, hatte sie abgeschlossen.
Sie verbrachte einen Nachmittag in Georgetown, an einem schönen, sonnigen
Samstag im Herbst, als ein Wind, wie es ihn auch in Minnesota gab, die sich
färbenden Bäume schüttelte, und sagte sich, ja, gut, das kann ich schaffen.
(War ihr außerdem bewusst, dass die University of Virginia,
an der Joey sich gerade eingeschrieben hatte, ganz in der Nähe lag? Waren ihre
Geographiekenntnisse vielleicht doch nicht so schlecht wie immer angenommen?)
Es klingt unglaublich, aber erst als sie endgültig in Washington angekommen war
- erst als sie mit zwei Koffern im Taxi saß und den Rock Creek überquerte -, fiel ihr ein, wie sehr ihr Politik und Politiker immer
zuwider gewesen waren. Sie betrat das Haus in der 29 th Street und wusste von einer Sekunde auf die andere, dass sie schon
wieder einen Fehler gemacht hatte.
2004
Gipfelabbau
Als es unausweichlich wurde, dass Richard Katz mit seinen eifrigen jungen
Bandkollegen wieder ins Studio ging, um ein zweites Walnut-Surprise-Album
aufzunehmen - sämtliche Flucht- und Verzögerungsmöglichkeiten hatte er
ausgeschöpft: Erst war er in jeder Stadt Amerikas, die ihn haben wollte,
aufgetreten, dann tourte er durch immer fernere Länder, bis seine Bandkollegen
rebellierten, weil er an ihre Türkeireise auch noch Zypern dranhängen wollte,
dann brach er sich den linken Zeigefinger, als er eine Taschenbuchausgabe von
Samantha Powers bahnbrechender Untersuchung der Genozide der Welt auffing, die
Tim, der Drummer der Band, zu kräftig durch ein Hotelzimmer in Ankara
geschleudert hatte, dann verkroch er sich in eine Hütte in den Adirondack Mountains, um die Musik für einen dänischen Kunstfilm zu schreiben,
machte dann aber, da ihn das Projekt anödete, in Plattsburgh einen Koksdealer
ausfindig und zog sich 5000 Euro Kunstförderung der dänischen Regierung in die
Nase, dann frönte er eine Zeitlang einem kostspieligen Lotterleben in New York
und Florida, das erst endete, als er in Miami wegen Trunkenheit am Steuer und
Drogenbesitzes verhaftet wurde, dann wies er sich selbst für sechs Wochen
Entgiftung und hämischen Widerstand gegen das Genesungsevangelium in die
Gubser-Klinik in Tallahassee ein, dann
kurierte er eine Gürtelrose aus, die er sich durch mangelnde Sorgfalt nach
einem Ausbruch von Windpocken in der Gubser zugezogen hatte, dann leistete er
250 Stunden angenehm hirnloser gemeinnütziger Arbeit in einem Park im Dade
County ab, und dann, wieder zu Hause, weigerte er sich schlicht,
ans Telefon zu gehen oder seine E-Mails abzufragen, da er unter dem Vorwand,
seine Abwehr gegen Frauen und Drogen zu stärken, an denen seine Bandkollegen
offenbar allesamt Vergnügen finden konnten, ohne es allzu sehr zu übertreiben,
Bücher las -, schickte er Tim eine Postkarte, in der er ihn bat, den anderen zu
sagen, er sei total pleite und werde wieder Vollzeit Dachterrassen bauen; und
die Übrigen von Walnut Surprise kamen sich wie Idioten vor, weil sie gewartet
hatten.
Nicht,
dass es von Belang gewesen wäre, aber Katz war tatsächlich pleite. Während der
anderthalbjährigen Tournee der Band hatten sich Einkünfte und Ausgaben mehr
oder weniger die Waage gehalten; drohte ein Überschuss, buchte er einfach
teurere Hotels und gab für ganze Bars voller Fans und Fremder Runden aus.
Obwohl ihm Nameless Lake und das
neuentfachte Verbraucherinteresse an alten Traumatics-Aufnahmen mehr Geld
eintrugen als seine gesamte Arbeit der zwanzig Jahre davor, hatte er in seinem
Bestreben, das Ich, das ihm aus dem Blick geraten war, wieder zu orten, jeden
Cent davon verpulvert. Die traumatischsten Geschehnisse, die den langjährigen
Frontmann der Traumatics je befallen hatten, waren l. eine Grammy-Nominierung,
2. dass seine Musik im Kulturfunk des National Public Radio gespielt
wurde und 3. dass, den Verkaufszahlen vom
Dezember nach zu schließen, Nameless Lake zum idealen
kleinen Weihnachtsgeschenk geworden war, das in mehreren hunderttausend
Haushalten, in denen NPR gehört
wurde, unter geschmackvoll geschmückte Bäume gelegt wurde. Besonders verstörend
und peinlich
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