Franzen, Jonathan
war die Grammy-Nominierung gewesen.
Katz hatte
sich eingehend mit populärer Soziobiologie befasst, und den depressiven
Persönlichkeitstypus und dessen scheinbar widernatürliches Verharren im menschlichen
Genpool verstand er so, dass Depression eine erfolgreiche Anpassung an endlose
Mühsal und Entbehrungen war. Pessimismus, ein Gefühl der Wertlosigkeit und
mangelndes Anspruchsdenken, die Unfähigkeit, aus Freude Zufriedenheit zu
schöpfen, ein quälendes Bewusstsein der grundlegenden Beschissenheit der Welt:
Für Katz' jüdische Vorfahren väterlicherseits, von unversöhnlichen Antisemiten
von einem Schtetl zum nächsten gejagt, ebenso wie für die alten Angeln und
Sachsen mütterlicherseits, die sich in den kurzen Sommern Nordeuropas mit dem
Anbau von Roggen und Gerste auf kargen Böden abgeplagt hatten, waren dauerhaft
schlechte Stimmung und die Erwartung des Schlimmsten natürliche Reaktionen
gewesen, um mit der Erbärmlichkeit ihres Daseins ins Reine zu kommen. Und
schließlich stellt einen Depressiven kaum etwas so zufrieden wie eine richtig
miese Nachricht. Sicher, eine optimale Lebensweise war das nicht, aber sie
hatte ihre evolutionären Vorteile. Depressive in trostlosen Lebensumständen
gaben, wie verzweifelt sie auch waren, ihre Gene weiter, während die
Selbstverbesserer zum Christentum übertraten oder in sonnigere Gefilde zogen.
Trostlose Lebensumstände waren auf eine Weise Katz' Milieu, wie es für einen
Karpfen trübes Wasser ist. Seine besten Jahre mit den Traumatics waren mit
Reagan I, Reagan II und Bush I zusammengefallen; Bill Clinton (zumindest
prä-Lewinsky) hatte für ihn eine gewisse Belastung dargestellt. Nun kam Bush
II, das schlimmste Regime von allen, und da hätte er mit der Musik gut wieder anfangen
können, wäre nicht der Erfolgsunfall gewesen. Karpfengleich flappte er auf dem
Boden herum, und seine psychischen Kiemen mühten sich vergeblich, aus einer
Atmosphäre von Beifall und Fülle dunkle Nahrung zu ziehen. Er war freier, als
er es seit der Pubertät gewesen war, und dem Selbstmord zugleich näher denn je.
In den letzten Tagen des Jahres 2003 machte er sich wieder an den Bau von
Dachterrassen.
Bei seinen
ersten beiden Kunden, zwei schwulen Private-Equity-Knaben, die auf die Chili Peppers standen und Richard Katz nicht von Ludwig van Beethoven unterscheiden
konnten, hatte er Glück. Auf ihren Dächern sägte und druckluftnagelte er in
relativer Ruhe. Erst bei seinem dritten Auftrag, der im Februar begann, ereilte
ihn das Pech, für Leute zu arbeiten, die ihn zu kennen meinten. Das Haus stand
in der White Street zwischen Church Street und
Broadway, und der Kunde, ein unabhängiger, reicher Verleger von Kunstbüchern,
besaß das gesamte Traumatics-OEuvre in Vinyl und schien
gekränkt, dass Katz sich nicht erinnerte, in all den Jahren, im spärlichen
Publikum des Maxwell's in
Hoboken, mehrmals sein Gesicht gesehen zu haben.
«Es gibt
so viele Gesichter», sagte Katz. «Gesichter kann ich mir schlecht merken.»
«An dem
Abend, als Molly von der
Bühne gefallen ist, waren wir danach alle noch was trinken. Ich habe irgendwo
noch ihre blutige Serviette. Wissen Sie das nicht mehr?»
«Da regt
sich nichts. Sorry.»
«Na,
jedenfalls ist es super, dass Sie endlich etwas von der Anerkennung kriegen,
die Sie verdienen.»
«Ich möchte
eher nicht darüber sprechen», sagte Katz. «Reden wir lieber übers Dach.»
«Im Grunde
möchte ich, dass Sie kreativ sind und mir dann die Rechnung schicken», sagte
der Kunde. «Ich möchte eine Dachterrasse, die Richard Katz gebaut hat. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass Sie das länger machen werden. Als ich hörte,
dass Sie so eine Arbeit machen, konnte ich es nicht fassen.»
«Trotzdem
wäre eine ungefähre Vorstellung von Gesamtgröße und bevorzugten Materialien
nützlich.»
«Ach,
machen Sie irgendwas. Seien Sie einfach kreativ. Ist nicht so wichtig.»
«Aber, mit
Verlaub, dann tun Sie einfach so, als wäre es wichtig», sagte Katz. «Denn wenn
es wirklich nicht so wichtig ist, dann weiß ich nicht, ob -»
«Bauen Sie
eine Terrasse aufs Dach, ja? Und zwar eine riesige.» Der Kunde schien sich über
ihn zu ärgern. «Lucy will hier oben Partys feiern. Ein Grund, warum wir das
überhaupt gekauft haben.»
Der Kunde
hatte einen Sohn, Zachary, der in seinem letzten Jahr an der Stuy High war, ein
angehender Hipster und anscheinend eine Art Gitarrist; an Katz' erstem
Arbeitstag kam er nach der Schule aufs Dach und löcherte ihn, als wäre
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