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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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bizarre hypothetische Frage. Ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit.»
    «Das ist
schön zu hören, aber darum geht es mir nicht. Es geht mir darum, dass wir alle
glauben, wir wüssten die Antwort auf diese Frage. Eltern sind darauf
programmiert, für ihre Kinder das Beste zu wollen, egal, was sie dafür
zurückbekommen. So soll die Liebe doch sein, oder? Aber wenn man mal darüber
nachdenkt, ist das ein merkwürdiges Denken. Nach allem, was wir darüber wissen,
wie die Menschen wirklich sind. Selbstsüchtig, kurzsichtig, egoistisch und
bedürftig. Warum soll das Elternsein, einfach an und für sich, jedem, der sich
darin versucht, Überlegenheit im Menschsein verleihen? Beispielsweise habe ich
dir ja ein wenig über meine Eltern erzählt -»
    «Nicht
sehr viel», sagte Joey.
    «Na ja,
vielleicht erzähle ich dir mal mehr, wenn du mich nett darum bittest. Aber was
ich sagen will: Dich betreffend habe ich intensiv über diese Frage der Liebe
nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen -»
    «Mom,
macht es dir was aus, wenn wir über etwas anderes reden?»
    «Ich bin
zu dem Schluss gekommen -»
    «Oder,
also, vielleicht ein andermal? Nächste Woche oder so? Ich muss hier noch einiges erledigen, bevor ich ins Bett gehe.» In St. Paul
wurde verletzt geschwiegen.
    «Entschuldige»,
sagte er. «Es ist ziemlich spät, und ich bin müde und muss noch einiges erledigen.»
    «Ich
wollte dir einfach nur erklären», sagte seine Mutter mit viel leiserer Stimme,
«warum ich dir den Scheck schicke.»
    «Schön,
danke. Das ist nett von dir. Denk ich mal.»
    Mit noch
kleinerer und verletzterer Stimme dankte ihm seine Mutter für den Anruf und
legte auf.
    Joey sah
sich auf dem Rasen nach Büschen oder einer architektonischen Nische um, wo er
unbemerkt von vorbeiziehenden Scharen heulen konnte. Da er keine sah, rannte er
in sein Wohnheim und bog blind, als müsste er kotzen, ins erste Klo, an dem er
in einem Flur, der nicht der seine war, vorüberkam, schloss sich in eine Kabine
ein und schluchzte voller Hass auf seine Mutter. Jemand duschte in einer Wolke
aus Deoseife und Moder. Eine große Erektion mit Grinsgesicht, die sich,
Tröpfchen spritzend, gleich Superman emporschwang,
war mit Filzstift auf die rostnarbige Kabinentür gemalt. Darunter hatte jemand
geschrieben KOMM JETZT ZUM SCHUSS ODER GEH KACKEN.
    Der
Vorwurf seiner Mutter war nicht so einfach gestrickt wie der von Carol
Monaghan. Anders als ihre Tochter war Carol nicht allzu helle. Connie besaß
eine spröde, kompakte Intelligenz: eine feste kleine Klitoris von Scharfblick
und Sensibilität, zu der sie Joey nur hinter verschlossenen Türen Zugang
gewährte. Wenn sie mit Carol, Blake und Joey gemeinsam beim Abendessen saß, aß
sie mit gesenktem Blick, scheinbar versunken in ihrer sonderbaren Gedankenwelt,
später jedoch, allein mit Joey in ihrem Zimmer, konnte sie noch das letzte
beklagenswerte Detail von Carols und Blakes Benehmen am Esstisch wiedergeben.
Einmal fragte sie Joey, ob er bemerkt habe, dass fast jede Äußerung Blakes
darauf hinauslaufe, wie blöd andere Leute seien und für wie überlegen und
ausgenutzt er sich dagegen selber halte. Blake zufolge war die KSTP-Wetter vorhersage
am Morgen blöd gewesen, hatten die Paulsens ihre Recyclingtonne an einer blöden
Stelle aufgestellt, war der Sicherheitsgurtpiepser in seinem Pick-up blöd, weil
er nicht nach sechzig Sekunden ausging, waren die Pendler blöd, die sich an das
Tempolimit auf der Summit Avenue
hielten, war die Ampelschaltung an der Summit, Ecke Lexington blöd, war sein Chef auf der Arbeit blöd, war die städtische Bauordnung
blöd. Joey fing an zu lachen, als Connie, sich unerbittlich erinnernd, weitere
Beispiele aufführte: Die neue Fernbedienung des Fernsehers war blöd gestaltet,
am Primetime-Programm von NBC waren
blöde Änderungen vorgenommen worden, die National League war blöd, weil sie nicht die DH-Regel übernahm, die Vikings waren blöd, weil sie Brad Johnson
und Jeff George hatten gehen lassen, der Moderator des zweiten Duells der
Präsidentschaftskandidaten war blöd, weil er AI Gore nicht darauf festnagelte,
wie verlogen er sei, Minnesota war blöd, weil es seine hart arbeitenden Bürger
für eine kostenlose medizinische Spitzenversorgung von
illegal eingewanderten Mexikanern und Sozialschmarotzern zahlen ließ, eine
kostenlose medizinische Spitzenversorgung -
    «Und weißt
du was?», sagte Connie schließlich.
    «Was?»,
sagte Joey.
    «Du machst
das nie. Du bist eben schlauer als

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