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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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er anrufen
könnte. In St. Paul hatte er allen seinen Freunden klargemacht, dass seine
Geschichte mit Connie gesprächsmäßig tabu war, und in Virginia hatte er sie
geheim gehalten. Fast jeder in seinem Wohnheim stand mit seinen Eltern täglich,
wenn nicht stündlich in Kontakt, und auch wenn ihn dies seinen Eltern gegenüber
unerwartet dankbar machte, weil sie viel gelassener waren und seine Wünsche
viel stärker respektierten, als er es hatte würdigen können, solange er noch
nebenan wohnte, löste es doch so etwas wie Panik aus. Er hatte sich Freiheit
erbeten, sie hatten sie ihm gewährt, und nun konnte er nicht mehr zurück. Nach
dem n. September hatte es eine kurze Serie von Familientelefonaten gegeben,
aber dabei wurde das Persönliche überwiegend ausgespart, indem sich seine Mom auf witzige Weise darüber ausließ, dass sie nicht von CNN loskomme,
obwohl sie doch überzeugt sei, dass ihr so viel CNN schade,
und sein Dad die
Gelegenheit ergriff, seiner langgehegten Feindschaft gegen organisierte
Religion Luft zu machen, und Jessica ihr Wissen über nicht-westliche Kulturen
kundtat und deren Brass auf den
US-amerikanischen Imperialismus als legitim erklärte. Jessica stand ganz unten
auf der Liste der Personen, die Joey in einer
Notlage anrufen würde. Vielleicht wenn sie die letzte lebende Bekannte wäre und
man ihn in Nordkorea verhaftet hätte und er bereit wäre, eine Standpauke über
sich ergehen zu lassen: vielleicht dann.
    Wie um
sich zu bestätigen, dass Carol sich in ihm getäuscht hatte, weinte er ein wenig
im Dunkeln da auf seiner Bank. Weinte um Connie in ihrem Elend, weinte, weil er
sie Carol ausgeliefert hatte - weil er nicht derjenige war, der sie retten
konnte. Dann trocknete er sich die Augen und rief seine Mutter an, deren
Telefon Carol wahrscheinlich hätte klingeln hören können, wenn sie am Fenster
gestanden und aufmerksam gehorcht hätte.
    «Joseph
Berglund», sagte seine Mutter. «Ich meine mich zu erinnern, den Namen schon
einmal gehört zu haben.»
    «Hallo,
Mom.»
    Sogleich
Schweigen.
    «Entschuldige,
ich hab länger nicht mehr angerufen.»
    «Ach, na
ja», sagte sie, «hier passiert ja auch nicht gerade viel, immer nur Angst vor
Anthrax, ein sehr realitätsferner Makler versucht, unser Haus zu verkaufen,
und dein Dad fliegt
ständig nach Washington und zurück. Weißt du, dass alle, die nach Washington
fliegen, die Stunde vor der Landung auf ihrem Sitz bleiben müssen? Eine
seltsame Vorschrift, finde ich. Was denken die sich denn dabei? Dass die
Terroristen ihren bösen Plan abblasen, bloß weil das Anschnallzeichen leuchtet? Dad sagt, sie sind kaum in der Luft,
da fangen die Stewardessen schon an, allen zu verkünden, sie sollen lieber
gleich auf die Toilette gehen, bevor es zu spät ist. Und dann verteilen sie
dosenweise Getränke.»
    Sie klang
wie eine ältliche Quasselstrippe, nicht wie der Vitalitätsbolzen, als den er
sie sich noch immer vorstellte, wenn er sich einen Gedanken an sie gestattete.
Er musste die Augen zusammenkneifen, um ein neuerliches Weinen zu
unterdrücken. Alles, was er in den letzten drei Jahren in Bezug auf sie getan
hatte, hatte darauf abgezielt, die sehr persönlichen Gespräche zu verhindern,
die sie geführt hatten, als er jünger gewesen war: sie dazu zu bringen, die Klappe zu halten,
sie darin zu schulen, sich zu beherrschen, dafür zu sorgen, dass sie ihn mit
ihrem übervollen Herzen und ihrem unzensierten Ich nicht auf die Nerven ging.
Und nun, da die Schulung abgeschlossen und sie ihm gegenüber gehorsam
oberflächlich war, fühlte er sich ihrer beraubt und wollte es rückgängig
machen.
    «Darf ich
dich fragen, ob bei dir alles gut ist?», sagte sie.
    «Alles
gut, ja.»
    «Ist das
Leben in den ehemaligen Sklavenstaaten schön?»
    «Sehr
schön. Das Wetter ist wunderbar.»
    «Stimmt,
das ist der Vorteil, wenn man in Minnesota aufgewachsen ist. Überall, wohin
man kommt, ist das Wetter schöner.»
    «Klar.»
    «Findest
du viele neue Freunde? Lernst du viele Leute kennen?»
    «Klar.»
    «Na, gut
gut gut. Gut gut gut. Schön, dass du anrufst, Joey. Also, du musst ja nicht
anrufen, deshalb ist es schön, dass du angerufen hast. Du hast zu Hause ein
paar echte Fans.»
    Eine Herde
männlicher Erstsemester trampelte aus dem Wohnheim heraus und stürmte auf den
Rasen, die Stimmen von Bier verstärkt. «Jo-iiiee, Jo-iiiee», grölten sie
liebevoll. Er nickte ihnen in kühler Zurkenntnisnahme zu.
    «Anscheinend
hast du auch dort Fans», sagte seine

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