Franzen, Jonathan
Besuch gewesen war. Sie war ein Mensch, vielleicht sogar
der einzige, zu dem er hundertprozentig hatte gut sein können. Und nun war sie
plötzlich tot.
Auf ihre
Beerdigung folgten einige Wochen Ruhe vor seiner Mutter, Wochen willkommener
Frostigkeit, aber nach und nach lief sie ihm wieder hinterher. Dass er in Bezug
auf Connie so offen war, nutzte sie als Vorwand, um ihrerseits unangemessen
offen zu ihm zu sein. Sie versuchte, ihn zu ihrem designierten
Versteher zu machen, und das erwies sich als noch schlimmer, als
ihr Kleiner-Junge-Kumpel zu bleiben. Es war hinterhältig und unwiderstehlich.
Es begann mit einer Vertraulichkeit: Eines Nachmittags setzte sie sich zu ihm
aufs Bett und erzählte ihm, wie sie damals am College von einer drogensüchtigen
pathologischen Lügnerin bedrängt worden war, die sie, anders als sein Vater,
sehr gemocht hatte. «Ich muss das
jemandem erzählen», sagte sie, «aber nicht unbedingt Dad. Gestern wollte ich
meinen neuen Führerschein abholen, und da stand sie vor mir in der Schlange.
Seit dem Abend, als ich mir das Knie ruinierte, habe ich sie nicht mehr
gesehen. Das ist jetzt - zwanzig Jahre her?
Sie hat
ziemlich zugenommen, aber sie war es, eindeutig. Und als ich sie sah, habe ich
es mit der Angst zu tun bekommen. Mir wurde klar, dass ich mich schuldig
fühle.»
«Warum
Angst?», hörte er sich sagen, ganz wie Tony Sopranos Therapeut. «Warum schuldig?»
«Keine
Ahnung. Ich bin rausgerannt, bevor sie sich umdrehen und mich sehen konnte.
Jetzt muss ich nochmal hin, um den Führerschein
abzuholen. Aber ich hatte solche Panik, dass sie sich umdreht und mich sieht.
Ich hatte Panik vor dem, was dann passiert wäre. Weil ich nämlich so was von
überhaupt nicht lesbisch bin. Das musst du mir glauben, ich wüsste es, wenn ich
es wäre - die Hälfte meiner alten Freundinnen ist lesbisch. Aber ich bin es
definitiv nicht.»
«Schön zu
hören», sagte er mit einem nervösen Grinsen.
«Doch
gestern, als ich sie sah, ist mir klargeworden, dass ich sie geliebt habe. Und
damit nie umgehen konnte. Und jetzt hat sie so eine Art Lithium-Schwere -»
«Was ist
Lithium.»
«Was gegen
manische Depression. Bipolare Störung.»
«Ah.»
«Und ich
habe sie total im Stich gelassen, weil Dad sie so sehr hasste. Sie litt, und
trotzdem habe ich sie nie mehr angerufen, und ihre Briefe sind ungeöffnet im
Müll gelandet.»
«Aber sie
hat dich angelogen. Sie hat dir Angst gemacht.»
«Ja,
schon. Trotzdem fühle ich mich schuldig.»
In den
darauffolgenden Monaten erzählte sie ihm noch viele andere Geheimnisse.
Geheimnisse, die sich als arsenhaltige Bonbons entpuppten. Eine Weile schätzte
er sich sogar glücklich, eine Mom zu haben, die so lässig und mitteilsam war. Er antwortete mit der
Enthüllung verschiedener Perversionen und kleinerer Vergehen seiner
Schulkameraden, suchte sie damit zu beeindrucken, dass seine Altersgenossen so
viel abgebrühter und verdorbener waren als junge Leute in den Siebzigern. Und
dann, während eines Gesprächs über Vergewaltigung bei Verabredungen, hatte sie
es eines Tages ganz natürlich gefunden, ihm zu erzählen, wie sie selbst einmal
als Teenager bei einer Verabredung vergewaltigt worden sei und dass er Jessica
davon kein Sterbenswort sagen dürfe, weil Jessica sie nicht so verstehe wie er
- niemand verstehe sie so wie er. In den Nächten nach diesem Gespräch hatte er
wach gelegen, in sich eine mörderische Wut auf den Vergewaltiger seiner Mutter
und empört über die Ungerechtigkeit der Welt und voller Schuldgefühle alles
Negativen wegen, das er je über sie gesagt oder gedacht hatte, und er war sich
privilegiert und bedeutend vorgekommen, weil er Zugang zur Welt der
Erwachsenengeheimnisse erhalten hatte. Und dann war er eines Morgens aufgewacht
und hasste sie so abgrundtief, dass er schon eine Gänsehaut bekam und sich ihm
der Magen umdrehte, wenn er bloß in einem Zimmer mit ihr war. Es war wie eine
chemische Umwandlung. Als sickerte ihm Arsen aus den Organen und dem
Knochenmark.
Jetzt, an
diesem Abend am Telefon, hatte ihn so bestürzt, wie vollkommen unblöd sie
geklungen hatte. Das nämlich war die Substanz ihres Vorwurfs. Sie hatte ihr
Leben offenbar nicht gerade gut im Griff, aber nicht etwa, weil sie blöd war.
Ganz im Gegenteil irgendwie. Sie hatte ein komisch-tragisches Bild von sich
selbst und schien die Art, wie sie war, zudem noch aufrichtig zu bedauern. Und
dennoch summierte sich das alles zu einem Vorwurf gegen ihn. Als spräche sie
eine
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