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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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schwanger war.
    «Hör zu»,
sagte er, «ich bin noch bei der Arbeit. Ich meine, Glückwunsch und so weiter.
Ich habe im Moment einfach zu tun.»
    «Du hast zu
tun. Klar.»
    «Ich
verspreche dir, ich rufe sie morgen Nachmittag an.»
    «Nein, tut
mir leid», sagte Carol, «das reicht nicht. Du musst sofort kommen und dir Zeit
für sie nehmen.»
    «Das ist
unmöglich.»
    «Dann komm
für eine Woche an Thanksgiving. Wir feiern
ein schönes Thanksgiving in der
Familie, wir alle vier. Dann hat sie was, worauf sie sich freuen kann, und du
kannst dir ein Bild davon machen, wie deprimiert sie ist.»
    Joey hatte
vorgehabt, den Feiertag in Washington bei seinem Zimmergenossen Jonathan zu verbringen,
dessen ältere Schwester, die im vorletzten Studienjahr an der Duke studierte,
entweder zu vorteilhaft fotografiert worden war oder zu denen gehörte, die man
unbedingt persönlich kennenlernen musste. Die Schwester hieß Jenna, was sie in Joeys Vorstellung mit den Bush-Zwillingen samt den Partys und der losen
Moral in Verbindung brachte, die der Name Bush anklingen ließ.
    «Ich habe
kein Geld für einen Flug.»
    «Du kannst
den Bus nehmen, wie Connie auch. Oder ist der Bus nicht gut genug für Joey
Berglund?»
    «Außerdem
habe ich andere Pläne.»
    «Na, dann
ändere deine Pläne mal», sagte Carol. «Deine Freundin der letzten vier Jahre
hat eine schwere Depression. Sie weint stundenlang, sie isst nicht. Ich musste
mit ihrem Chef bei Frost's reden, damit
er sie nicht feuert, weil sie sich keine Bestellungen merken kann, alles
durcheinanderbringt und nie lächelt. Vielleicht dröhnt sie sich ja bei der
Arbeit zu, das würde mich nicht wundern. Danach kommt sie nach Hause und geht
direkt ins Bett und bleibt dort. Wenn sie Nachmittagsschicht hat, muss ich in der Mittagspause den ganzen Weg nach Hause fahren und mich
vergewissern, dass sie aufsteht und sich für die Arbeit anzieht, weil sie das
Telefon nicht abnimmt. Dann muss ich sie zu Frost's fahren und mich vergewissern, dass
sie auch reingeht. Ich habe versucht, Blake hinzuschicken, dass der das für
mich regelt, aber mit dem redet sie nicht mehr und tut auch nicht, was er sagt.
Manchmal denke ich, sie will meine Beziehung mit ihm kaputt machen, aus reiner
Bosheit, weil du weg bist. Sage ich zu ihr, sie soll zum Arzt gehen, sagt sie,
sie braucht keinen. Frage ich sie, was sie beweisen will und was ihr Lebensplan
ist, sagt sie, ihr Plan ist es, mit dir zusammen zu sein. Das ist ihr einziger
Plan. Deinen kleinen Plan für Thanksgiving, was immer
du auch vorhast, den änderst du mal lieber.»
    «Ich sagte
doch, ich rufe sie morgen an.»
    «Glaubst
du im Ernst, du kannst meine Tochter vier Jahre lang als Betthasen benutzen und
einfach abhauen, wenn's dir passt? Glaubst du das wirklich? Als du angefangen
hast, mit ihr rumzumachen, war sie ein Kind.»
    Joey
dachte an den denkwürdigen Tag in seinem alten Baumhaus, als Connie sich im
Schritt ihrer abgeschnittenen Shorts gerieben und dann seine etwas kleinere
Hand genommen hatte, um ihm zu zeigen, wo er sie berühren sollte: Wie leicht er
zu überreden gewesen war. «Ich war da natürlich auch ein Kind», sagte er.
    «Junge, du
warst nie ein Kind», sagte Carol. «Du warst immer cool und beherrscht. Glaub
mal nicht, ich hätte dich nicht auch als Baby gekannt. Du hast nie geweint! So
was habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. Du hast nicht mal geweint,
wenn du dir den Zeh geprellt hast. Dein Gesicht hat sich verzogen, aber du hast
keinen Pieps gesagt.»
    «Doch, ich
habe geweint. Ich erinnere mich definitiv daran, geweint zu haben.»
    «Du hast
sie benutzt, du hast mich benutzt, du hast Blake benutzt. Und jetzt glaubst
du, du kannst dich einfach von uns abwenden und verschwinden? Glaubst du, dass
so die Welt läuft? Glaubst du, wir alle sind einfach bloß zu deinem
persönlichen Vergnügen da?»
    «Ich werde
versuchen, sie dazu zu kriegen, sich beim Arzt was verschreiben zu lassen. Aber
weißt du, Carol, wir führen hier ein richtig merkwürdiges Gespräch. Es ist kein
gutes Gespräch.»
    «Tja, dann
gewöhn dich schon mal dran, weil wir es morgen und übermorgen und
überübermorgen wieder führen werden, bis ich von dir höre, dass du an Thanksgiving kommst.»
    «Ich komme
nicht an Thanksgiving.»
    «Tja, dann
gewöhn dich schon mal daran, von mir zu hören.»
    Als die Bibliothek
schloss, ging er hinaus in die frostige Nacht und setzte sich auf eine Bank vor
seinem Wohnheim, wo er über sein Handy strich und überlegte, wen

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