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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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ausgefeilte, aber aussterbende Ursprache und ginge davon aus, dass es der
jüngeren Generation (d. h. Joey) obliege, sie entweder zu bewahren oder für ihr
Verschwinden verantwortlich zu sein. Oder als wäre sie einer der gefährdeten
Vögel seines Dad, der im Wald sein obsoletes Lied singt in der aussichtslosen
Hoffnung, dass eine verwandte Seele vorbeikommt und es hört. Hier war sie, und
dort war die übrige Welt, und allein dadurch, wie sie mit ihm sprach, machte
sie ihm zum Vorwurf, dass er der übrigen Welt seine Treue bewies. Aber wer
konnte ihm schon vorwerfen, dass er die Welt vorzog? Er musste doch versuchen,
sein eigenes Leben zu leben! Das Problem war, dass er ihr als Kind in seiner
Schwäche gezeigt hatte, dass er ihre Sprache sehr wohl verstand und auch ihr
Lied erkannte, und nun musste sie ihn offenbar daran erinnern, dass diese
Fähigkeiten noch immer in ihm steckten - nur für den Fall, dass ihm wieder
einmal danach war, auf diese Fähigkeiten zurückzugreifen.
    Wer immer
im Wohnheimbad geduscht hatte, war jetzt fertig und trocknete sich ab. Die
Flurtür ging auf und wieder zu, auf und wieder zu; ein minziger Geruch vom
Zähneputzen wehte von den Waschbecken herüber in Joeys Kabine. Von seinem Geheule hatte er einen Steifen bekommen, den er nun
aus Boxershorts und Khakihose zog und verzweifelt umfasste. Wenn er ihn unten
am Schaft richtig fest drückte, konnte er die Eichel riesig und scheußlich und,
von dem venösen Blut, fast schwarz werden lassen. Er betrachtete sie so gern,
genoss das Gefühl von Geborgenheit und Autonomie, das ihm ihre abstoßende
Schönheit gab, so sehr, dass er gar nicht wichsen und damit auch diese Härte
aufgeben mochte. Jede Minute des Tages mit einem Steifen rumzulaufen, da
würden einen alle natürlich einen Stecher nennen. Was Blake war. Joey wollte
nicht wie Blake sein, aber noch weniger wollte er der designierte
Versteher seiner Mutter sein. Mit lautlos spastischen Fingern, den
Blick auf die Härte gerichtet, kam er in die klaffende Toilette und betätigte
sogleich die Spülung.
    Oben in
ihrem Eckzimmer las Jonathan John Stuart Mill und guckte
dabei das neunte Inning eines World-Series-Spiels. «Sehr knifflige Lage hier»,
sagte Jonathan. «Ich erlebe tatsächlich Anfälle von Sympathie für die Yankees.»
    Joey, der
nie allein Baseball sah, ganz gern aber mit anderen, setzte sich aufs Bett, als
Randy Johnson gerade Fastballs auf einen Yankee warf, der schon die Niederlage
in den Augen hatte. Es stand 4: o. «Die könnten aber noch zurückschlagen»,
sagte er.
    «Das wird
nichts mehr», sagte Jonathan. «Und tut mir leid, aber seit wann spielen
Erweiterungsteams nach vier Spielzeiten in der Series? Ich versuche immer noch zu akzeptieren, dass Arizona überhaupt eine
Mannschaft hat.»
    «Freut
mich, dass du endlich zur Vernunft findest.»
    «Versteh
mich nicht falsch. Es gibt nach wie vor nichts Schöneres als eine Niederlage
der Yankees, vorzugsweise mit einem einzigen Run Unterschied, vorzugsweise mit
einem Passed Ball von Jorge Posada, dem kinnlosen Wunderknaben. Aber gerade in
diesem Jahr möchte man doch irgendwie, dass sie gewinnen. Es ist ein patriotisches
Opfer, das wir alle New York bringen müssen.»
    «Ich
möchte jedes Jahr, dass sie gewinnen», sagte Joey, auch wenn ihm das nicht
sonderlich wichtig war.
    «He, aber
wieso das denn? Müsstest du nicht für die Twins sein?»
    «Das liegt
wahrscheinlich vor allem daran, dass meine Eltern die Yankees nicht abkönnen.
Mein Dad liebt die Twins, gerade weil sie einen
kleinen Etat haben, und in Sachen Etat sind die Yankees nun mal der Feind. Und
meine Mom ist einfach ganz grundsätzlich
eine verrückte New-York-Hasserin.»
    Jonathan
warf ihm einen interessierten Blick zu. Bis jetzt hatte Joey sehr wenig über
seine Eltern preisgegeben, nur eben so viel, dass der Anschein vermieden wurde,
er mache ein ärgerliches Geheimnis um sie. «Warum hasst sie New York denn?»
    «Keine
Ahnung. Weil sie da herkommt, schätz ich mal.»
    In
Jonathans Fernseher schlug Derek Jeter
einen Line Drive auf die zweite Base, worauf das Spiel zu Ende war.
    «Sehr
komplexe Gefühlslage hier», sagte Jonathan und schaltete aus.
    «Kannst du
dir vorstellen, dass ich nicht mal meine Großeltern kenne?», sagte Joey. «Meine Mom ist da echt seltsam. Während meiner
gesamten Kindheit haben sie uns ein einziges Mal besucht, so für achtundvierzig
Stunden. Da war meine Mom die ganze
Zeit über unglaublich gekünstelt und neurotisch. Einmal haben

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