Franzen, Jonathan
andere, deshalb musst du sie auch nie als
blöd bezeichnen.»
Joey nahm
dieses Kompliment mit Unbehagen an. Zum einen ließ ihn der direkte Vergleich
mit Blake einen kräftigen Hauch Konkurrenzdruck verspüren - das verstörende
Gefühl, ein Pfand oder ein Siegerpreis in einem komplizierten
Mutter-Tochter-Kampf zu sein. Und auch wenn es stimmte, dass er, als er bei den
Monaghans eingezogen war, eine Menge Vorurteile über Bord geworfen hatte,
hatte er davor doch alles Mögliche als blöd bezeichnet, insbesondere seine
Mutter, die ihm zunehmend als Quell endloser, nervenaufreibender Idiotie
erschienen war. Und nun deutete Connie offenbar an, dass die Leute sich nur
deswegen über Blödheit beklagten, weil eigene Blödheit sie dazu brachte.
In
Wahrheit war das Einzige, bei dem seine Mutter sich der Blödheit schuldig
gemacht hatte, Joey selbst gewesen. Sicher, es hatte auch sehr dumm gewirkt,
dass sie beispielsweise so respektlos über Tupac geredet hatte, dessen beste Sachen Joey ohne Wenn und Aber auf Genieebene
ansiedelte, oder bei Eine schrecklich nette Familie so
aggressiv geworden war, obwohl deren Blödheit doch etwas so Kalkuliertes und
Extremes hatte, dass sie absolut bestach. Aber nie wäre sie so über Eine
schrecklich nette Familie hergefallen, wenn Joey sich nicht
so hingebungsvoll die ganzen Wiederholungen angesehen hätte, nie hätte sie sich
dazu hergegeben, ihre peinlich schiefen Zerrbilder von Tupac zu entwerfen, wäre Joey nicht so ein Bewunderer von ihm gewesen. Die
eigentliche Wurzel ihrer Blödheit war ihr Wunsch, dass Joey ihr
Kleiner-Junge-Kumpel blieb: dass er sich auch weiterhin mehr von seiner Mutter
als vom tollen Fernsehen oder einem offenbar genialen Rapstar unterhalten und
faszinieren ließ. Das war der kranke Kern ihrer Dummheit: sie konkurrierte.
Irgendwann
war er so verzweifelt gewesen, dass er ihr regelrecht eingebläut hatte, er
wolle nicht mehr ihr Kleiner-Junge-Kumpel sein. Das hatte er nicht einmal
bewusst geplant, es war eher ein Nebenprodukt seines schon lange währenden
Ärgers über seine moralinsaure Schwester, die zu erzürnen und zu entsetzen er
keine schönere Methode wusste, als in der Zeit, wo seine Eltern bei der
kränkelnden Großmutter in Grand Rapids waren,
einen Haufen Freunde zu sich einzuladen und sich mit Jim Beam zu betrinken, und dann, in der Nacht, Connie an der Wand zu Jessicas
Zimmer extralaut zu bumsen, womit er Jessica veranlasste, ihre unerträglichen
Belle & Sebastian auf Club-Lautstärke aufzudrehen und später, nach
Mitternacht, mit ihren tugendhaft weißen Knöcheln an seine abgeschlossene
Zimmertür zu hämmern -
«Verdammt,
Joey! Du hörst sofort auf damit! Sofort, hast du
verstanden?»
«Hey, mal
langsam, ich tue dir hier einen Gefallen.»
«Was?»
«Du hast
es doch bestimmt satt, mich nicht zu verpetzen? Ich tue dir einen Gefallen!
Hier, das ist deine Chance!»
«Jetzt
verpetz ich dich wirklich. Ich rufe sofort Dad an.»
«Nur zu!
Hast du mir nicht zugehört? Ich sagte ja gerade, ich tue dir einen Gefallen.»
«Du
Wichser. Du selbstgefälliger kleiner Wichser. Ich rufe jetzt sofort Dad an -», während Connie, splitternackt, Mund und Brustwarzen
blutrot, dasaß, den Atem anhielt und Joey mit einer Mischung aus Furcht,
Verblüffung, Erregung, Ergebenheit und Freude ansah, was ihn wie nichts zuvor
und wenig seither davon überzeugte, dass ihr keine Vorschrift, keine
Anstandsregel, kein Moralgesetz ein Tausendstel so wichtig war wie ihr Wunsch,
sein auserwähltes Mädchen, seine Komplizin zu sein.
Dass seine
Großmutter in jener Woche starb, kam für ihn unerwartet, denn so alt war sie noch
gar nicht. Indem er einen Tag vor ihrem Ableben die Kacke zum Dampfen gebracht
hatte, hatte er sich extrem ins Unrecht gesetzt. Wie sehr, zeigte sich daran,
dass er nicht einmal angeschrien wurde. In Hibbing, bei der Beerdigung, behandelten
seine Eltern ihn einfach wie Luft. Er musste abseits in seiner Schuld schmoren,
während die übrigen Angehörigen vereint standen in der Trauer, die er mit
ihnen hätte teilen sollen. Dorothy war der
einzige Großelternteil in seinem Leben gewesen, und sie hatte ihn, als er noch
sehr jung war, damit beeindruckt, dass sie ihn ihre verkrüppelte Hand betasten
und somit feststellen ließ, dass es immer noch die Hand eines Menschen war und
nichts, wovor man sich zu fürchten brauchte. Danach hatte er nie mehr Einwände
gegen die Freundlichkeiten erhoben, die er ihr auf Bitten seiner Eltern bezeigen
sollte, wenn sie zu
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