Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
Vom Netzwerk:
deren gefährdeter Zustand sich schon im
kompensatorischen Gigantismus ihrer Pick-ups und
Geländewagen manifestierte), hatte einen Mörderhass auf die Kohlelasterfahrer
entwickelt, die nie die Spur hielten und in West Virginia buchstäblich jede
Woche einen tödlichen Unfall verursachten, wofür er ohnmächtig die korrupten Abgeordneten
des Bundesstaates verantwortlich machte, die sich trotz zahlloser Beweise für
die Verheerungen, die die Kohlelaster anrichteten, weigerten, deren
Gewichtslimit auf 48 Tonnen zu senken, hatte «Unglaublich! Unglaublich!»
gemurmelt, wenn ein Fahrer vor ihm bei Grün abbremste, dann beschleunigte und
bei Gelb durchfuhr, während er selber vor Rot hängenblieb, hatte eine volle
Minute schäumend an Kreuzungen gestanden, obwohl doch meilenweit kein Querverkehr zu sehen war, und mühsam, Lalitha zuliebe, die
Beschimpfung hinuntergeschluckt, die er zu gern hervorstieß, wenn ein Fahrer
sich weigerte, bei Rot regelkonform rechts abzubiegen: «Hallo? Kriegst du's
auch mal mit? Es gibt noch mehr auf der Welt als dich! Andere leben in der
Wirklichkeit! Lern mal fahren! Hallo!» Besser also einen Adrenalinschub
erleiden, wenn Lalitha aufs Gas stieg, um bergauf schnaufende Laster zu
überholen, als seine Gehirnarterien unter Stress setzen, indem er das Steuer übernahm und hinter diesen Lastern
klebenblieb. So konnte er die grauen Streichholzwälder der Appalachen und die
bergbauverwüsteten Gebirgskämme betrachten und seine Wut auf Probleme richten,
die sie mehr verdienten.
    Lalitha
war gehobener Stimmung, als sie in ihrem Mietwagen die beträchtliche, sich über
zwanzig Kilometer hinziehende Steigung der I -64 hinaufschossen,
ein irrwitzig teures Stück aus Bundeszuschüssen, die Senator Byrd abgezweigt
hatte. «Mir ist ja so nach Feiern zumute», sagte sie. «Feierst du heute Abend
mit mir?»
    «Wir
schauen mal, ob es in Beckley ein ordentliches Restaurant gibt», sagte Walter,
«obwohl das leider nicht sehr wahrscheinlich ist.»
    «Betrinken
wir uns! Lass uns doch ins beste Lokal der Stadt gehen und Martini trinken.»
    «Unbedingt.
Ich lade dich auf einen Riesenmartini ein. Mehr als einen, wenn du willst.»
    «Nein, du
aber auch», sagte sie. «Nur einmal. Mach doch mal zur Feier des Tages eine
Ausnahme.»
    «Ich
glaube, ein Martini könnte mich zum jetzigen Zeitpunkt umbringen, ehrlich.»
    «Dann eben
ein Light-Bier. Ich trinke drei Martini, und du kannst mich hinterher auf mein
Zimmer tragen.»
    Walter
mochte es nicht, wenn sie solche Sachen sagte. Sie wusste nicht, was sie da von
sich gab, sie war ja nur eine temperamentvolle junge Frau - wenn auch zurzeit
der hellste Lichtstrahl in seinem Leben - und begriff nicht, dass mit
Körperkontakt zwischen Vorgesetztem und Angestellter nicht zu spaßen war.
    «Drei
Martini würden dem Wort morgen früh sicher eine neue
Bedeutung geben», sagte er mit einer müden Anspielung auf den Abriss, dem
beizuwohnen sie nach Wyoming County fuhren.
    «Wann hast
du zuletzt was getrunken?», sagte Lalitha.
    «Noch nie.
Ich habe noch nie Alkohol getrunken.»
    «Nicht mal
an der Highschool?»
    «Nie.»
    «Walter,
das ist ja unglaublich! Du musst es probieren! Manchmal macht Trinken solchen
Spaß. Von einem Bier wirst du noch nicht zum Alkoholiker.»
    «Das wäre
gar nicht mal meine Sorge», sagte er und überlegte, noch während er es sagte,
ob es auch stimmte. Sein Vater und sein älterer Bruder, beide zusammen der
Fluch seiner Jugend, waren Alkoholiker gewesen, und seine Frau, die sich in
Windeseile zum Fluch seiner mittleren Jahre entwickelte, neigte ebenfalls dazu.
Er hatte seine strikte Abstinenz stets als Opposition zu ihnen verstanden -
erst, weil er sich von seinem Vater und Bruder so weit wie möglich
unterscheiden wollte, und später, weil er zu Patty ebenso unfehlbar freundlich
zu sein versuchte, wie sie, in betrunkenem Zustand, manchmal unfreundlich zu
ihm war. Es war eine der Ebenen, auf der er und Patty, wenn auch nicht von Anfang
an, miteinander auskamen: er immer nüchtern, sie manchmal betrunken, und keiner
von beiden legte dem anderen jemals nahe, sich
zu ändern.

«Was wäre
denn deine Sorge?», sagte Lalitha.
    «Wahrscheinlich,
dass ich etwas ändere, was bei mir siebenundvierzig Jahre lang perfekt
funktioniert hat. Wenn es nicht kaputt ist, warum es dann reparieren?»
    «Weil es
Spaß macht!» Sie riss das Steuer des Mietwagens herum, um einen Sattelschlepper
zu überholen, der in seinem eigenen Sprühnebel dahinrauschte.

Weitere Kostenlose Bücher