Franzen, Jonathan
«Ich bestelle dir
ein Bier, und du trinkst zur Feier des Tages wenigstens einen Schluck.»
Der
nordamerikanische Laubwald südlich von Charleston war jetzt, am Vorabend der
Tagundnachtgleiche, noch immer ein verdrießlicher Gobelin aus Grau- und
Schwarztönen. In ein, zwei Wochen würde warme Luft aus dem Süden eintreffen,
um diese Wälder zu begrünen, und einen Monat später wären sie vom Gesang der
Singvögel erfüllt, die robust genug waren, um aus den Tropen herzuziehen, doch
grauer Winter schien für Walter der wahre Naturzustand des nordamerikanischen
Waldes zu sein. Der Sommer lediglich ein gnädiger Zufall, der ihm alljährlich
widerfuhr.
In
Charleston hatten er und Lalitha und ihre dortigen Anwälte am Vormittag den
Industriepartnern der Waldsängerberg-Stiftung, Nardone und Blasco, in aller
Förmlichkeit die Dokumente vorgelegt, die diese brauchten, um mit dem Abriss
von Forster Hollow zu beginnen
und 6000 Hektar des zukünftigen Waldsänger-Reservats für den Gipfelabbau zu
erschließen. Vertreter von Nardone und Blasco hatten sodann die Stapel von
Papieren unterzeichnet, die die Anwälte der Stiftung während der vergangenen
zwei Jahre vorbereitet hatten, Papiere, die die Kohleunternehmen offiziell zu
einem Paket von Renaturierungsvereinbarungen und Rechteübertragungen verpflichteten,
die zusammengenommen sicherstellen würden, dass das ausgebeutete Land für immer
«wild» blieb. Vin Haven, der Vorsitzende
der Stiftung, war per Telekonferenz «anwesend» gewesen und hatte Walter danach
auf seinem Handy angerufen, um ihm zu gratulieren. Doch Walter war alles andere
als in Feierlaune. Am Ende war es ihm gelungen, die Zerstörung Dutzender
herrlich bewaldeter Berggipfel und Kilometer um Kilometer klarer, biologisch
reichhaltiger Bäche der Klassen I und II zu ermöglichen. Um immerhin das zu
erreichen, hatte Vin Haven anderswo
im Staat Förderrechte für 20 Millionen Dollar an Erdgasunternehmen verkaufen
müssen, die nur darauf warteten, mit ihren Bohrungen das Land zu schänden und
die Erträge weiteren Beteiligten zu überlassen, die Walter missfielen. Und
wofür das alles? Für den «Verbreitungsschwerpunkt» einer gefährdeten Art, den
man auf einer Straßenkarte von West Virginia mit einer Briefmarke abdecken
konnte.
In seiner
Wut und Enttäuschung über die Welt fühlte sich Walter selbst wie die grauen
nordamerikanischen Wälder. Und Lalitha, geboren in der Wärme Südasiens, war der
sonnige Mensch, der so etwas wie einen flüchtigen Sommer in seine Seele
brachte. Das Einzige, was er am Abend feiern wollte, war, dass sie sich nun,
nach ihrem «Erfolg» in West Virginia, auf ihre Überbevölkerungsinitiative
stürzen konnten. Doch er dachte an die Jugend seiner Assistentin und wollte
ihre Begeisterung nicht dämpfen.
«Na gut»,
sagte er. «Ich probiere ein Bier, ausnahmsweise. Dir zu Ehren.»
«Nein, Walter, dir zu Ehren. Das war alles deine Arbeit.»
Er
schüttelte den Kopf, wusste er doch, dass sie insbesondere damit unrecht hatte.
Ohne ihre Wärme, ihren Charme, ihren Mut wäre der Deal mit Nardone und Blasco
wahrscheinlich in die Hose gegangen. Es stimmte schon, die großen Ideen hatte
er geliefert, aber mehr als große Ideen hatte er anscheinend nicht zu bieten.
In jeder anderen Hinsicht saß Lalitha jetzt am Steuer. Über dem Nadelstreifenanzug,
den sie wegen der Formalitäten am Vormittag angezogen hatte, trug sie einen
Nylonmantel, dessen zurückgeworfene Kapuze wie ein Korb die schimmernd
schwarzen Haare barg. Ihre Hände lagen bei zehn vor zwei auf dem Lenkrad, die
Handgelenke waren nackt, die silbernen Armbänder unter die Ärmelaufschläge
ihres Mantels gerutscht. Zahllos waren die Dinge, die Walter an der Moderne im
Allgemeinen und der Autokultur im Besonderen hasste, doch die Zuversicht
junger Fahrerinnen, die Autonomie, die sie während der letzten hundert Jahre
erlangt hatten, gehörten nicht dazu. Die Gleichheit der Geschlechter, darin
manifest geworden, dass Lalithas hübscher Fuß aufs Gaspedal trat, machte ihn
froh, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben.
Das
schwierigste Problem, das er für die Stiftung hatte lösen müssen, war die Frage
gewesen, was er mit den rund zweihundert zumeist sehr armen Familien tun
sollte, denen Häuser oder Wohnwagen auf kleinen oder ziemlich kleinen
Landparzellen innerhalb der geplanten Grenzen des Waldsängerparks gehörten.
Einige der Männer arbeiteten noch im Kohlebergbau, entweder unter Tage oder als
Fahrer, die meisten waren
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