Franzen, Jonathan
Marinejacke und schritt auf ihn zu, ging mit ihrem Gesicht ganz nah
an sein Gesicht und mit ihren weitaufgerissenen Augen ganz nah an seine heran,
als presste sie den Kopf an einen Spiegel. In ihm kam es zu einer drastischen
Organschmelze. Er hatte Aussicht darauf, es ungefähr vierzigmal besorgt zu
kriegen, aber es war mehr als das. Es war, als wären der Busbahnhof und all die
einkommensschwachen Reisenden, die sie umfluteten, mit Helligkeits- und Farbreglern
ausgestattet, die durch die Präsenz dieses Mädchens, das er schon ewig kannte,
radikal heruntergefahren waren. Alles wirkte matt und fern, als er sie durch
Gänge und Hallen führte, die er keine halbe Stunde zuvor noch in lebensechten
Farben gesehen hatte.
In den
Stunden danach machte Connie mehrere einigermaßen alarmierende Enthüllungen. Zu
der ersten kam es, als sie mit der U-Bahn zur Charles Street fuhren und er sie
fragte, wie sie es geschafft habe, in dem Restaurant so lange freizunehmen -
ob sie Leute gefunden habe, die einspringen würden.
«Nein, ich
hab einfach gekündigt», sagte sie.
«Gekündigt? Ist das nicht eine eher schlechte Jahreszeit, um denen so was
anzutun?»
Sie zuckte
die Achseln. «Du hast mich hier gebraucht. Ich habe dir doch gesagt, dass du
mich nur rufen musst.»
Sein
Schreck ob dieser Enthüllung gab dem Waggon Helligkeit und Farbe wieder. Es
war, wie wenn sein berauschtes Hirn aus tiefen Haschträumereien ins wache
Bewusstsein zurücksprang: Er sah, dass die anderen U-Bahn-Passagiere ihr Leben
lebten, ihre Ziele verfolgten und dass auch er sich darum kümmern musste. Und
sich nicht zu weit in etwas, über das er nicht bestimmen konnte, hineinziehen
lassen durfte.
Eine ihrer
verrückteren Telefonsex-Episoden im Sinn, in der ihre Schamlippen sich so
phantastisch weit geöffnet hatten, dass sie sein ganzes Gesicht bedeckten, und
seine Zunge so lang war, dass ihre Spitze das unergründliche innere Ende ihrer
Vagina erreichte, hatte er sich, bevor er zum Port Authority aufbrach, sehr sorgfältig rasiert. Nun, da sie beide jedoch in natura
zusammen waren, offenbarten diese Phantasien ihre Absurdität, und die
Erinnerung daran wurde unangenehm. In der Wohnung angekommen, ging er mit
Connie, anders als an dem Wochenende in Virginia, nicht sogleich ins Bett,
sondern schaltete den Fernseher an, um nach dem Spielstand bei einem
College-Footballspiel zu sehen, das ihm nichts bedeutete. Dann schien es von
großer Dringlichkeit, seine E-Mails abzufragen und herauszufinden, ob einer
seiner Freunde nicht während der letzten drei Stunden geschrieben hatte. Connie
saß mit den Katzen auf dem Sofa und wartete geduldig, bis sein Computer
hochgefahren war.
«Übrigens»,
sagte sie, «ich soll dich von deiner Mom grüßen.»
«Was?»
«Deine Mom lässt dich grüßen. Als ich aufgebrochen bin, war sie draußen und
hackte Eis. Sie hat mich mit meiner Tasche gesehen und gefragt, wo ich
hinfahre.»
«Und du
hast es ihr gesagt?»
Connies Überraschung war ungespielt. «Sollte ich etwa nicht? Sie hat mir viel
Spaß gewünscht und gesagt, ich soll dich grüßen.»
«Sarkastisch?»
«Keine
Ahnung. Vielleicht ja, wenn ich's mir jetzt so überlege. Ich habe mich einfach
nur gefreut, dass sie überhaupt mit mir gesprochen hat. Sie hasst mich doch.
Aber dann habe ich gedacht, vielleicht findet sie sich jetzt endlich mit mir
ab.»
«Das
bezweifle ich.»
«Tut mir
leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Ich würde doch nie etwas Falsches
sagen, wenn ich wüsste, dass es falsch ist. Das weißt du doch, oder?»
Joey stand
vom Computer auf und bemühte sich, nicht wütend zu sein. «Schon gut», sagte er.
«Es ist nicht deine Schuld. Oder nur zu einem kleinen Teil.»
«Baby,
schämst du dich für mich?»
«Nein.»
«Schämst
du dich für das, was wir am Telefon gesagt haben? Hat es damit zu tun?»
«Nein.»
«Aber ich
ein bisschen. Manches war schon ziemlich krank. Ich weiß nicht, ob ich das noch
weiter haben muss.»
«Du hast
doch damit angefangen!»
«Ja. Ich
weiß, ich weiß. Aber du kannst mir nicht für alles die Schuld geben. Nur für
die Hälfte.»
Wie um ihr
die Wahrheit dessen zu bestätigen, lief er zu ihr ans Sofa und kniete zu ihren
Füßen nieder, senkte den Kopf und legte ihr die Hände auf die Beine. So nah an
ihren Jeans, ihren besten engen Jeans, dachte er an die langen Stunden, die
sie im Greyhound-Bus gefahren war, während er sich zweitklassige
College-Footballspiele angesehen und mit Freunden telefoniert hatte. Er
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