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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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9:30 Club,
rauschte seine Stimmung dann vollends in den Keller. Katz war mehrere Jahre
nicht mehr bei einem Konzert im Publikum gewesen, hatte sich kein Teenie-Idol
mehr angehört, seit er selbst ein Teenie gewesen war, und inzwischen war er so
sehr an das ältere Volk bei den Auftritten von Walnut Surprise und den
Traumatics gewöhnt, dass er vergessen hatte, wie völlig anders eine
Teenie-Szene sein konnte. Wie religiös beinahe in ihrer kollektiven Ernsthaftigkeit.
Im Unterschied zu Walter, der in seiner kulturbeflissenen Art das gesamte
CEuvre von Bright Eyes besaß und
es im Thai-Restaurant ermüdend gerühmt hatte, kannte Katz die Band nur vom
osmotischen Hörensagen. Er und Walter waren mindestens doppelt so alt wie alle
anderen in dem Club, die platthaarigen Jungs und modisch undürren Püppchen. Er
spürte, wie er hier und da angesehen und erkannt wurde, als sie in den
pausenleeren Saal gingen, und er dachte, er hätte wohl kaum eine schlechtere
Entscheidung treffen können, als in der Öffentlichkeit zu erscheinen und durch
seine bloße Anwesenheit eine Band zu adeln, von der er nahezu nichts wusste. Er
fragte sich, was unter diesen Umständen schlimmer war, geoutet und umschwänzelt
zu werden oder in Mittvierziger-Vergessenheit dazustehen.
    «Möchtest
du versuchen, backstage zu
kommen?», sagte Walter.
    «Ich packe
das nicht, Mann. Bin dem nicht gewachsen.»
    «Nur, um
mich denen vorzustellen. Das dauert bloß eine Minute. Ich übernehme dann mit
meinem Sermon.»
    «Bin dem
nicht gewachsen. Ich kenne die doch gar nicht.»
    Der
Pausenmix, dessen Zusammenstellung der Hauptgruppe zustand, war makellos
skurril. (Das Getue, die Gewieftheit und das Schulmeisterliche beim
Zusammenstellen des Mix, den Druck, sich in seinen Hörgewohnheiten als groovy zu erweisen, hatte Katz als Frontmann der Hauptgruppe immer gehasst
und seinen Bandkollegen überlassen.) Roadies bauten
alle möglichen Mikros und Instrumente auf, während Walter die
Conor-Oberst-Story zum Besten gab: dass er schon mit zwölf Stücke aufgenommen
habe, dass er noch immer in Omaha lebe, dass seine Band weniger eine normale
Rockgruppe als vielmehr ein Kollektiv oder eine Familie sei. Aus jedem Eingang
strömten mopsfidele Teenies leuchtenden Auges in den Saal (was für ein
beschissener, ärgerlicher, ranschmeißerischer Bandname Bright
Eyes doch ist, dachte Katz). In den Keller gerauscht war seine
Stimmung nicht aus Neid und schon gar nicht, weil er meinte, überlebt zu sein.
Es war eher eine Verzweiflung über die Zersplitterung der Welt. Die Nation
führte in zwei Ländern üble Bodenkriege, der Planet erhitzte sich wie ein
Grillofen, und hier im 9:30 steckte er inmitten Hunderter von Teenies vom
Schlage der Bananenbrot backenden Sarah, Teenies mit niedlichen Sehnsüchten
und unschuldigem Anspruch - worauf? Auf Gefühl. Auf die unverfälschte
Verehrung einer superspeziellen Band. Darauf, ein oder zwei Stunden lang an
einem Samstagabend sich selbst überlassen zu sein, um den Zynismus und den Zorn
der Älteren rituell zurückzuweisen. Offenbar hegten sie, wie Jessica gerade
bei ihrer Sitzung angedeutet hatte, keinerlei Groll. Katz sah das an ihrer
Kleidung, die nichts von der Wut und Verdrossenheit all derer verriet, deren
Teil er als junger Mensch gewesen war. Sie kamen nicht im Zorn zusammen,
sondern um zu feiern, dass sie, als Generation, eine sanftere und
respektvollere Lebensform gefunden hatten. Eine Lebensform, die nicht zufällig
eher in Einklang mit dem Konsumieren stand. Und daher zu ihm sagte: Stirb.
    Oberst,
der einen taubenblauen Frack trug, betrat allein die Bühne, schnallte sich
eine Akustische um und sang zwei längere Solonummern. Er war der wahre Jakob,
ein junges Genie und Katz darum desto unausstehlicher. Seine «Gequälter
seelenvoller Künstler-Masche, die Maßlosigkeit, mit der er seine Songs die
natürlichen Grenzen des Erträglichen überschreiten ließ, seine raffinierten
Verstöße gegen die Pop-Konvention: Er performte Aufrichtigkeit, und wenn die
Performance drohte, die Aufrichtigkeit Lügen zu strafen, performte er sein
aufrichtiges Leiden an der Schwierigkeit des Aufrichtigseins. Dann kam die
übrige Band, darunter drei niedliche junge Backup-Grazien in vampigem Outfit, und es war alles in allem ein Supergig - Katz erniedrigte sich nicht
so weit, das zu bestreiten. Er kam sich lediglich wie der einzige
stocknüchterne Mensch in einem Raum voller Betrunkener vor, der einzige
Nichtgläubige bei einem kirchlichen

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