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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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darauf hinauslief, dass man für
seine Mannschaftskameradinnen einstehen müsse, womit in diesem Fall alle
jungen Frauen gemeint waren, denen Ethan je
begegnen würde. Das Fazit lautete, Patty solle den Kopf für die Mannschaft
hinhalten, Anzeige erstatten und Trainerin Nagel erlauben, Ethans Privatschule
in New Hampshire zu informieren, damit man ihn dort hinauswerfen und ihm das Abschlusszeugnis
verweigern könne, andernfalls lasse sie ihre Mannschaft hängen.
    Patty fing
wieder an zu weinen, weil sie im Prinzip lieber gestorben wäre, als die
Mannschaft hängenzulassen. Im Winter hatte sie einmal, trotz Grippe, fast eine
ganze Basketballhalbzeit durchgespielt, bevor sie an der Seitenlinie
zusammengeklappt war und intravenös versorgt werden musste. Das Problem war
nun, dass sie den Abend gar nicht zusammen mit ihrer Mannschaft verbracht
hatte. Vielmehr war sie mit ihrer Feldhockey-Freundin Amanda, deren Seele
anscheinend keinen Frieden finden konnte, ehe sie Patty nicht dazu gebracht
hatte, Pina Colada zu probieren, auf die Party bei den McCluskys gegangen, wo
es, so war versprochen worden, eimervoll davon gab. El ron me puso loca. Keins der anderen Mädchen am Pool
der McCluskys war Sportlerin gewesen. Ihre eigentliche, wahre Mannschaft hatte
Patty fast schon dadurch betrogen, dass sie überhaupt hingegangen war. Und
dafür war sie nun bestraft worden. Ethan hatte
keins der Partymädchen vergewaltigt, er hatte Patty vergewaltigt, weil sie
nicht dorthin gehörte, ja nicht einmal wusste, wie man richtig trank.
    Sie
versprach Trainerin Nagel, über die Sache nachzudenken.
    Es war ein
Schock, ihre Mutter in der Sporthalle zu sehen, und offenbar auch ein Schock
für ihre Mutter, dass sie sich selber auf einmal dort wiederfand. Sie trug ihre
Alltagspumps und erinnerte, während sie so dastand und ihren Blick unsicher
über die Geräte aus blankem Metall und die pilzigen Böden und die in Netzen steckenden
Balltrauben schweifen ließ, an Goldlöckchen im dunklen Wald. Patty ging zu ihr
und ließ sich umarmen. Da ihre Mutter viel kleiner und zierlicher war als sie,
kam Patty sich ein wenig wie eine Standuhr vor, die Joyce anzuheben und
wegzutragen versuchte. Sie machte sich los und führte Joyce in Trainerin Nagels
kleines, mit einer Glaswand abgetrenntes Büro, damit die unvermeidliche Besprechung
stattfinden konnte.
    «Hallo,
ich bin Jane Nagel», sagte Trainerin Nagel.
    «Ja, wir -
wir sind uns schon begegnet», sagte Joyce.
    «Ach ja,
stimmt, einmal sind wir uns schon begegnet», sagte Trainerin Nagel.
    Zusätzlich
zu ihrer angestrengten Sprechweise hatte Joyce eine angestrengt korrekte
Haltung, und sie verfügte über ein maskenhaftes freundliches
Lächeln, das für fast alle Gelegenheiten, ob öffentlich oder
privat, geeignet war. Da sie nie, auch nicht im Zorn, die Stimme erhob (wenn
sie wütend war, wurde ihre Stimme nur noch zittriger und angespannter), konnte
sie ihr freundliches Lächeln jederzeit
aufsetzen, selbst in Momenten eines qualvollen Konflikts.
    «Nein,
öfter als einmal», sagte sie jetzt. «Wir sind uns schon mehrmals begegnet.»
    «Wirklich?»
    «Ganz
sicher.»
    «Das habe
ich anders in Erinnerung», sagte Trainerin Nagel. «Ich warte dann mal draußen»,
sagte Patty und schloss hinter sich die Tür.
    Die
Mutter-Trainerin-Besprechung dauerte nicht lange. Schon bald kam Joyce auf
klappernden Absätzen heraus und sagte: «Lass uns gehen.»
    Trainerin
Nagel, die hinter Joyce im Türrahmen stand, warf Patty einen bedeutsamen Blick
zu. Der Blick hieß so viel wie: Vergiss nicht, was ich über den
Mannschaftsgeist gesagt habe.
    Joyces
Wagen stand als letzter noch auf einem der Quadranten des Besucherparkplatzes.
Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn aber nicht herum. Patty
fragte sie, was jetzt passieren werde.
    «Dein
Vater ist in der Kanzlei», sagte Joyce. «Wir fahren direkt zu ihm.»
    Aber sie
drehte den Schlüssel nicht herum. «Es tut mir leid», sagte Patty.
    «Was ich
nicht verstehe», stieß ihre Mutter hervor, «ist, wie eine so hervorragende
Sportlerin wie du - ich meine, wie konnte Ethan oder wer immer es war -»
    «Ethan. Es
war Ethan.»
    «Wie
konnte überhaupt jemand - oder Ethan», sagte sie. «Du sagst, es war ziemlich
eindeutig Ethan. Wie konnte - wenn es Ethan war - wie konnte er überhaupt...?»
Ihre Mutter hielt sich die Finger vor den Mund. «Ach, ich wünschte, es wäre
irgendjemand anders gewesen. Dr. Post und seine Frau sind so gute Freunde von -
so gute

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