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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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es ist sogar ziemlich viel. Es wäre für dich die Garantie, dass er
es keiner anderen antut. Und erfordert übrigens auch ein Schuldeingeständnis.»
    Zugegeben,
die Vorstellung, dass Ethan einen orangefarbenen Sträflingsanzug trug und in
einer Gefängniszelle saß, weil er ihr ein Leid zugefügt hatte, das letztlich
vor allem in ihrem Kopf existierte, war absurd. Sie hatte schon Sprints
hingelegt, die genauso schmerzhaft waren, wie vergewaltigt zu werden. Fühlte
sich nach einem harten Basketballspiel zerschlagener als jetzt. Außerdem
gewöhnte man sich als Sportlerin daran, fremde Hände am eigenen Körper zu spüren
- beim Kneten eines verkrampften Muskels, in der direkten Verteidigung, beim
Gerangel um einen Ball, Verbinden eines Knöchels, Korrigieren einer Haltung,
Dehnen einer Kniesehne.
    Und doch:
Das Gefühl der Ungerechtigkeit an sich erwies sich als ein eigentümlich
physisches. War in gewisser Weise sogar realer als ihr schmerzender,
stinkender, schwitzender Körper. Ungerechtigkeit hatte eine Form und ein
Gewicht und eine Temperatur und eine Struktur und einen sehr schlechten
Geschmack.
    In Dr.
Sippersteins Praxis ließ sie die Untersuchung sportlich über sich ergehen. Als
sie sich wieder angezogen hatte, fragte er sie, ob sie vorher schon einmal
Geschlechtsverkehr gehabt habe.
    «Nein.»
    «Das
dachte ich mir. Und wie sieht es mit Verhütung aus? Hat die andere Person etwas
benutzt?»
    Sie
nickte. «Das war der Moment, wo ich wegwollte. Als ich gesehen habe, was er da
hatte.»
    «Ein
Kondom.»

«Ja.»
    All dies
und mehr notierte Dr. Sipperstein in ihrer Krankenakte. Dann nahm er seine
Brille ab und sagte: «Du wirst ein schönes Leben haben, Patty. Sex ist etwas
Wunderbares, und du wirst ihn dein Leben lang genießen. Aber das war kein so
guter Tag für dich, was?»
    Zu Hause
war eines ihrer Geschwister im Garten und jonglierte mit so etwas wie
Schraubenziehern verschiedener Größe. Ein anderes Geschwisterteil las den
ungekürzten Gibbon. Das dritte, das sich seit einiger Zeit von Yoplait und
Badieschen ernährte, änderte im Badezimmer wieder einmal seine Haarfarbe. Pattys wahres Zuhause inmitten all dieser exzentrischen Vortrefflichkeit war
die schaumstoffgepolsterte, schimmelige Einbaubank in der Fernsehecke des
Kellers. Noch Jahre nachdem Eulalie gegangen war, haftete der Duft ihres
Haaröls an der Bank. Patty nahm eine Packung Pekannuss-Eiscreme mit nach unten
und antwortete mit Nein, als ihre Mutter ihr die Frage hinterherrief, ob sie
nicht zum Essen heraufkommen wolle.
    Die Mary Tyler Moore Show hatte kaum angefangen, da kam ihr
Vater, nach seinem Martini und dem Abendessen, zu ihr in den Keller und schlug
ihr vor, noch eine kleine Spazierfahrt mit ihm zu machen. Zum damaligen
Zeitpunkt umfasste Mary Tyler Moore Pattys gesammeltes
Wissen über Minnesota.
    «Kann ich
erst noch diese Folge sehen?», sagte sie. «Patty.»
    In dem
Gefühl, auf grausame Weise um ihr Vergnügen gebracht zu werden, schaltete sie
den Fernseher aus. Ihr Vater fuhr mit ihr zur Highschool und hielt unter einer
hellen Lampe auf dem Parkplatz. Sie kurbelten die Fenster herunter und ließen
den Duft von Frühlingswiesen wie jener, auf der sie nicht viele Stunden zuvor vergewaltigt
worden war, zu sich herein.
    «Also»,
sagte sie.
    «Also,
Ethan streitet es ab», sagte ihr Vater. «Er sagt, es sei bloß eine Balgerei
gewesen und in gegenseitigem Einvernehmen geschehen.»
    Die
Autobiographin würde die Tränen des Mädchens im Wagen als einen Regen
beschreiben, der unmerklich beginnt, aber überraschend schnell alles unter
Wasser setzt. Sie fragte, ob ihr Vater selber mit Ethan gesprochen habe.
    «Nein, nur
mit seinem Vater, zweimal», antwortete er. «Es wäre gelogen, wenn ich sagen
würde, die Gespräche seien gut verlaufen.»
    «Mr. Post
glaubt mir also nicht.»
    «Na ja,
Patty, Ethan ist sein Sohn. Er kennt dich nicht so gut, wie wir dich kennen.»
    «Glaubst
du mir denn?»
    «Ja, ich
glaube dir.»
    «Und
Mommy?»
    «Sie
glaubt dir natürlich auch.»
    «Und was
soll ich jetzt machen?»
    Ihr Vater
wandte sich ihr zu wie ein Anwalt. Wie ein Erwachsener, der mit einem anderen
Erwachsenen spricht. «Du lässt es auf sich beruhen», sagte er. «Vergisst es.
Blickst nach vorn.»
    «Was?»
    «Du
schüttelst es ab. Blickst nach vorn. Lernst, vorsichtiger zu sein.»
    «So, als
wäre es nie passiert?»
    «Patty,
die Leute auf der Party waren allesamt Freunde von ihm. Sie werden sagen, sie
hätten mitbekommen, wie du immer

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