Franzen, Jonathan
Schwärmereien für beliebte Jungs, die so viel älter und
attraktiver waren als sie, dass sie nicht die geringste Chance bei ihnen hatte.
Da sie ein sehr umgänglicher Mensch war, verabredete sie sich dennoch mit
praktisch jedem, der sie fragte. In ihren Augen hatten schüchterne oder
unbeliebte Jungs kein leichtes Leben, und deshalb erbarmte sie sich ihrer,
sofern es menschenmöglich schien. Aus irgendeinem Grund waren viele von ihnen
Ringer. Nach Pattys Erfahrung
waren Ringer unerschrocken, schweigsam, einfältig, knorrig und höflich und
hatten keine Angst vor Sportlerinnen. Einer von ihnen vertraute ihr an, er und
seine Freunde hätten sie in der Mittelstufe unter sich «die Äffin» genannt.
Was
richtigen Sex betrifft, bestand Pattys erste
Erfahrung darin, als Siebzehnjährige auf einer Party vergewaltigt zu werden,
und zwar von einem älteren Internatsschüler namens Ethan Post. Außer Golfspielen trieb Ethan keinen
Sport, aber er hatte Patty fünfzehn Zentimeter Körpergröße und zwanzig Kilo
Gewicht voraus und erteilte ihr entmutigenden Anschauungsunterricht über die
weibliche Muskelkraft im Vergleich zur männlichen. Wie eine Grauzonen-Vergewaltigung
kam ihr das, was er mit ihr machte, jedenfalls nicht vor. Als sie anfing, sich
zu wehren, wehrte sie sich heftig, wenn auch nicht allzu gut, und nur kurz,
denn sie war so ungefähr zum ersten Mal betrunken. Herrlich frei hatte sie sich
gefühlt! In Kim McCluskys riesigem Swimmingpool hatte sie Ethan Post, in jener schönen warmen Mainacht, sehr wahrscheinlich einen
falschen Eindruck vermittelt. Sie war viel zu umgänglich gewesen, selbst als
sie noch gar nicht betrunken war. Im Pool musste sie vor lauter Umgänglichkeit
ganz übermütig geworden sein. Alles in allem hatte sie sich vieles selbst
zuzuschreiben. Ihre Vorstellungen von Romantik waren wie Gilligans
Insel - «denkbar primitiv». Sie lagen irgendwo zwischen
Schneewittchen und Nancy Drew. Und Ethan hatte zweifellos jenes arrogante Aussehen, von dem sie sich zum
damaligen Zeitpunkt angezogen fühlte. Er ähnelte dem Objekt der Begierde aus
einem Mädchenroman mit Segelbooten auf dem Buchumschlag. Nachdem er Patty
vergewaltigt hatte, sagte er, es tue ihm leid, dass «es» gröber gewesen sei,
als er «es» beabsichtigt habe, das habe er nicht gewollt.
Erst als
die Wirkung der Pina Coladas nachließ, früh am nächsten Morgen in dem Zimmer,
das Patty, da sie ja ein so umgänglicher Mensch war, mit ihrer kleinen
Schwester teilte, damit die mittlere Schwester ein eigenes Zimmer hatte, in dem
sie kreativ und chaotisch sein konnte: erst
da setzte ihre Entrüstung ein. Das Entrüstende für sie war, dass Ethan sie offenbar für ein solches Nichts erachtet hatte, dass er meinte,
sie einfach so vergewaltigen und dann nach Hause bringen zu können. Aber sie
war kein solches Nichts. Unter anderem
hielt sie schon jetzt, als Elftklässlerin, an der Horace
Greeley High School den höchsten
Korbvorlagen-Saisonrekord aller Zeiten. Einen Rekord, den sie bereits im
kommenden Jahr wieder zunichtemachen würde! Außerdem war sie in das Team der
besten Spielerinnen ihres Bundesstaates gewählt worden, eines Staates, der Brooklyn
und die Bronx einschloss. Und trotzdem hatte ein Golf spielender Typ, den sie kaum kannte, es in
Ordnung gefunden, sie zu vergewaltigen.
Um ihre
kleine Schwester nicht zu wecken, ging sie unter die Dusche und weinte dort.
Dies war, ohne Übertreibung, die elendste Stunde ihres Lebens. Noch heute, wenn
sie an die Menschen überall auf der Welt denkt, die unterdrückt werden und
Opfer von Ungerechtigkeit sind, und sich fragt, wie die sich fühlen mögen,
erinnert sie sich an diese Stunde. Dinge, die ihr vorher nie in den Sinn gekommen
waren, zum Beispiel die Ungerechtigkeit, sich als älteste Tochter ein Zimmer
teilen zu müssen, anstatt in Eulalies früheres Zimmer im Keller ziehen zu
dürfen, weil es inzwischen bis an die Decke mit längst nicht mehr aktuellen
Wahlkampfutensilien vollgestopft war, oder die Ungerechtigkeit, dass ihre
Mutter, die so begeistert überallhin rannte, wo ihre mittlere Tochter als Mimin
glänzte, nie zu einem von Pattys Spielen
ging, fielen ihr jetzt ein. Vor lauter Empörung war sie drauf und dran, jemandem
ihr Herz auszuschütten. Aber sie scheute sich, ihre Trainerin oder ihre Mannschaftskameradinnen
wissen zu lassen, dass sie getrunken hatte.
Wenn die
Geschichte trotz all ihrer Bemühungen, sie im Verborgenen zu halten,
schließlich doch herauskam, dann deshalb,
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