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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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Freunde von so vielen guten Dingen. Und ich kenne Ethan nicht näher,
aber -»
    «Ich kenne
ihn fast gar nicht!»
    «Wie
konnte das denn dann passieren!»
    «Lass uns
einfach nach Hause fahren.»
    «Nein. Du
musst mir antworten. Ich bin deine Mutter.»
    Joyce
wirkte verlegen, als sie sich das sagen hörte. Anscheinend merkte sie, wie
sonderbar es klang, Patty daran zu erinnern, wer ihre Mutter war. Und Patty wiederum
war froh, dass dieser Zweifel endlich klar zutage trat. Wenn Joyce ihre Mutter
war, wieso war sie dann nicht zur ersten Runde des staatlichen Turniers
gekommen, bei dem Patty den bis dahin für die Mädchenturniere der Horace Greeley High School geltenden Korbrekord gebrochen und
zweiunddreißig Punkte erzielt hatte? Irgendwie hatten die Mütter aller anderen
doch auch die Zeit gefunden, sich das Spiel anzusehen. Sie zeigte Joyce ihre
Handgelenke.
    «Das ist
passiert», sagte sie. «Ich meine, das ist ein Teil von dem, was passiert ist.»
    Joyce warf
einen Blick auf ihre blauen Flecken, schauderte und wandte sich dann ab, als
wollte sie Pattys Intimsphäre
respektieren. «Das ist furchtbar», sagte sie. «Du hast recht. Das ist
furchtbar.»
    «Trainerin
Nagel sagt, ich soll zur Notaufnahme fahren und die Polizei und Ethans
Schuldirektor verständigen.»
    «Ja, ich
weiß, was deine Trainerin möchte. Sie scheint zu glauben, dass Kastration eine
angemessene Strafe wäre. Ich möchte vor allem wissen, was du denkst.»
    «Ich weiß
nicht, was ich denke.»
    «Wenn du
jetzt zur Polizei gehen möchtest», sagte Joyce, «dann tun wir das. Du musst mir
nur sagen, ob du das möchtest.»
    «Vielleicht
sollten wir erst Dad fragen.»
    Und los
ging es, den Saw Mill Parkway hinunter.
Joyce chaufherte Pattys Geschwister
permanent irgendwohin, wenn sie Malen, Gitarre, Ballett, Japanisch,
Debattieren, Theater, Klavier, Fechten oder simulierte Gerichtsverhandlungen
hatten, aber Patty wurde nur noch selten von Joyce gefahren. An den Wochentagen
kam sie meistens sehr spät mit dem Sportbus nach Hause. Nach einem Spiel nahm
die Mutter oder der Vater einer Mannschaftskameradin sie mit. Wenn sie und ihre
Freundinnen doch mal strandeten, machte sie sich gar nicht erst die Mühe, ihre
Eltern anzurufen, sondern griff gleich auf die Nummer der Taxizentrale von Westchester und einen der Zwanzigdollarscheine zurück, die sie, weil ihre Mutter
es so wollte, immer bei sich hatte. Nie kam es ihr in den Sinn, die Zwanziger
für etwas anderes als Taxis auszugeben oder nach einem Spiel noch woandershin
zu fahren als direkt nach Hause, wo sie abends um zehn oder elf Aluminiumfolie
von ihrem Essen pulte und in den Keller ging, um ihr Trikot in die
Waschmaschine zu stecken, und dann saß sie da unten und aß und schaute sich im
Fernsehen Wiederholungen an. Oft schlief sie darüber ein.
    «Jetzt mal
eine rein hypothetische Frage», sagte Joyce im Fahren. «Wäre es eventuell
ausreichend, wenn Ethan sich in aller Form bei dir entschuldigen würde?»
    «Er hat
sich schon entschuldigt.»
    «Dafür, dass

    «Dafür,
dass er grob war.»
    «Und was
hast du daraufhin gesagt?»
    «Gar
nichts. Nur, dass ich nach Hause wollte.»
    «Aber er
hat sich dafür entschuldigt, dass er grob war.»
    «Es war
keine richtige Entschuldigung.»
    «Gut. Ich
verlasse mich darauf.»
    «Er soll
einfach nur wissen, dass ich existiere.»
    «Was immer du willst - Liebling.» Joyce sprach dieses «Liebling» wie das
erste Wort einer Fremdsprache aus, die sie gerade zu lernen begonnen hatte.
    Zum Test
oder zur Strafe sagte Patty: «Also, wenn er sich richtig ernsthaft
entschuldigen würde, wäre das eventuell ausreichend.» Und sie spähte zu ihrer
Mutter hinüber, die sich Mühe gab (wie es Patty schien), ihre Freude im Zaum zu
halten.
    «Das
klingt für mich nach einer nahezu idealen Lösung», sagte Joyce. «Aber nur, wenn
du wirklich glaubst, dass es für dich ausreichend wäre.»
    «Wäre es
nicht», sagte Patty.
    «Wie
bitte?»
    «Ich habe
gesagt, das wäre es nicht.»
    «Ich
dachte, du hättest gerade das Gegenteil gesagt.» Patty fing wieder ganz
verzweifelt an zu weinen. «Entschuldige», sagte Joyce. «Habe ich dich falsch
verstanden?»
    «ER HAT
MICH VERGEWALTIGT, ALS OB ES NICHTS WÄRE. ICH BIN WAHRSCHEINLICH NICHT MAL DIE
ERSTE.»
    «Das weißt
du nicht, Patty.»
    «Ich
möchte ins Krankenhaus.»
    «Pass auf,
wir sind ja gleich bei Daddys Kanzlei. Wenn du nicht ernstlich verletzt bist,
können wir doch auch -»
    «Aber ich
weiß schon, was er sagen wird. Ich

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