Franzen, Jonathan
sich, dem daran liegt, jedes Opfer gleichermaßen zu bestrafen. Unter
Berufung auf europäische Sitten fand er es richtig, Kindern Wein zu geben, und
während die jungen Mütter damit beschäftigt waren, Maiskolben zu entblättern
oder miteinander konkurrierende Salate zu garnieren, verdünnte er seinen Doe
Haunch Reserve mit Wasser und flößte ihn selbst dreijährigen Kindern ein,
indem er sie, wenn nötig, sanft am Kinn fasste und ihnen die Mixtur in den Mund
goss, wobei er sehr darauf achtete, dass sie auch brav heruntergeschluckt
wurde. «Wisst ihr, was das ist?», sagte er. «Das ist Wein.» Wenn ein Kind dann
anfing, sich seltsam zu benehmen, sagte er: «Das, was du jetzt empfindest,
nennt man betrunken sein. Du hast zu viel getrunken. Du bist betrunken.» Sagte
das, bei aller Freundlichkeit, aufrichtig entrüstet. Patty, stets das älteste
der Kinder, beobachtete solche Szenen mit stillem Entsetzen und überließ es
ihren jüngeren Geschwistern oder den Cousins und Cousinen, Alarm zu schlagen:
«Granddaddy macht die kleinen Kinder betrunken!» Während die Mütter angelaufen
kamen, um mit August zu schimpfen und ihre Kinder wegzuzerren, und die Väter
schmutzige Witze über Augusts Besessenheit von weiblichen Wildhinterteilen
rissen, stieg Patty unbemerkt in den See und ließ sich auf den wärmsten Stellen
treiben, wo das Wasser ihr die Ohren vor ihrer Familie verschloss.
Denn die
Sache war so: Bei jedem Picknick gab es, oben in der Küche des Steinhauses, ein
oder zwei Flaschen eines fabelhaften alten Bordeaux aus Augusts Kellerregalen.
Dieser Wein wurde auf Drängen von Pattys Vater
hervorgeholt, wobei im Dunkeln blieb, wie viel Schmeichelei und Gebettel ihn
das kostete, und Pattys Vater war
es auch, der seinen Brüdern und etwaigen von ihm mitgebrachten Freunden mit
einem dezenten Nicken bedeutete, sich vom Picknick fortzustehlen und ihm zu
folgen. Ein paar Minuten später kamen die Männer dann mit großen,
kugelbauchigen Gläsern in der Hand zurück, die bis zum Rand mit einem
phantastischen Roten gefüllt waren, und Ray, der außerdem eine französische
Flasche mit nach draußen brachte, teilte den Rest, vielleicht zweieinhalb
Zentimeter, unter all den Ehefrauen und weniger beliebten Gästen auf. Kein noch
so inständiges Bitten konnte August dazu bringen, eine weitere Flasche aus
seinem Keller zu holen; stattdessen bot er noch mehr Doe Haunch Reserve an.
Und auch
an Weihnachten war es jedes Jahr das Gleiche: Die Großeltern kamen in ihrem
neuesten Mercedes-Modell (August gab seinen alten alle ein, zwei Jahre in
Zahlung) aus New Jersey angefahren, trafen eine Stunde früher ein, als
frühestens einzutreffen Joyce sie angefleht hatte, und verteilten in dem aus
allen Nähten platzenden Bungalow beleidigende Geschenke. Unvergessen die zwei
vielfach gebrauchten Geschirrtücher, mit denen Joyce eines Weihnachtens
bedacht wurde. Ray erhielt typischerweise einen dieser großen Kunstbände vom
Barnes & Noble-Wühltisch, manchmal noch mit einem $ 3,99 -Schild darauf.
Die Kinder bekamen irgendwelchen kleinteiligen, in Asien hergestellten
Plastikschund: Mini-Reisewecker, die nicht funktionierten, Münzportemonnaies
mit dem eingestanzten Namenszug einer Versicherungsagentur aus New Jersey,
furchterregende, geschmacklose chinesische Fingerpuppen, diverse Rührstäbchen.
Unterdessen wurde in Augusts Alma Mater eine Bibliothek errichtet, die seinen
Namen trug. Da Pattys Geschwister
die großelterliche Knauserigkeit empörend fanden und zur Rettung ihrer
Weihnachtsausbeute empörende Forderungen an die Eltern stellten - Joyce war
jeden Heiligabend bis drei Uhr morgens auf den Beinen und verpackte, was sie
von den endlosen, äußerst detaillierten Wunschzetteln ausgewählt hatte -,
schlug Patty die entgegengesetzte Richtung ein und beschloss, sich für nichts
anderes mehr zu interessieren als Sport.
Ihr
Großvater war früher einmal Leistungssportler gewesen, Leichtathletikstar und
Football-Tight-End an einem College in Maine, was vermutlich erklärte, woher
sie ihre Körpergröße und Behexe hatte. Auch Ray hatte Football gespielt, allerdings an einer Schule in Maine, die nur mit Mühe eine
komplette Mannschaft aufs Feld bekam. Seine eigentliche Passion war Tennis, der
einzige Sport, den Patty hasste, obwohl sie gut darin war. Björn Borg hielt sie
für insgeheim schwach. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Joe Namath zum
Beispiel), konnten männliche Sportler sie generell nicht beeindrucken. Ihre
Spezialität waren
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