Franzen, Jonathan
ihrer achttausend
Kilometer langen Reise erschöpft, konkurrierten mit den früher Eingetroffenen
um die verbliebenen Reste des Reviers; sie suchten vergebens nach einem
Partner, sie gaben das Nisten auf und existierten, ohne zu brüten, sie wurden
von herumstreifenden Katzen zum Spaß getötet. Doch die Vereinigten Staaten
waren noch immer ein vielfältiges und relativ junges Land, und noch immer
fanden sich Nischen mit einem reichen Vogelleben, wenn man danach suchte.
Und um
ebendas zu tun, brachen Walter und Lalitha Ende April in einem Transporter
voller Campingausrüstung auf. Sie hatten einen Monat frei, bevor sie sich
ernsthaft an die Arbeit für FreiRaum machen wollten, und ihre Verpflichtungen
gegenüber der Waldsängerberg-Stiftung waren beendet. Was, des Sprit fressenden
Transporters wegen, ihren C0 2 -Fußabdruck
betraf, so tröstete sich Walter damit, dass er während der vergangenen
fünfundzwanzig Jahre mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Arbeit gependelt war und
dass er außer dem kleinen, verrammelten Haus am Namenlosen See keinen Wohnsitz
mehr besaß. Er fand, dass ihm nach einem langen tugendhaften Leben ein
ordentlicher Schluck aus dem Zapfhahn zustand, ein Sommer in der Natur als
Ausgleich für den Sommer, den man ihm als Teenager genommen hatte.
Während er
noch im Krankenhaus des Whitman County gelegen
hatte, wo sein ausgerenkter Kiefer, sein aufgeplatztes Gesicht und seine
gequetschten Rippen versorgt worden waren, hatte Lalitha in ihrer Verzweiflung
seinen Ausbruch als einen durch Trazodon ausgelösten
psychotischen Schock schöngeredet. «Er ist buchstäblich
schlafgewandelt», sagte sie entschuldigend zu Vin Haven. «Ich weiß nicht, wie viele Trazodon er genommen hat, aber jedenfalls
mehr als eine, und das erst wenige Stunden davor. Er wusste buchstäblich nicht,
was er sagte. Es war mein Fehler,
dass ich ihn die Rede habe halten lassen. Sie sollten mich feuern,
nicht ihn.»
«Machte
mir eher den Eindruck, dass er eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte,
was er sagte», entgegnete Vin, verblüffend wenig verärgert. «Schade, dass er
das derart überinterpretieren musste. Er hat so gute Arbeit geleistet, und dann
musste er da so intellektuell rangehen.»
Vin hatte
eine Konferenzschaltung mit seinen Stiftungskuratoren organisiert, die seinen
Vorschlag, Walter sofort zu entlassen, abgenickt hatten, und seine Anwälte
angewiesen, für den Eigentumsanteil der Berglunds an der Villa in Georgetown
sein Rückkaufsrecht geltend zu machen. Lalitha benachrichtigte die Bewerber für
die FreiRaum-Praktika, dass ihr die Mittel gestrichen worden seien, dass
Richard Katz sich aus dem Projekt zurückziehe (Walter hatte sich, im
Krankenbett, dann doch durchgesetzt) und dass das Fortbestehen von FreiRaum
überhaupt in Zweifel stehe. Einige Bewerber stornierten in ihrer
Antwort-E-Mail die Bewerbung, zwei hofften, sie könnten trotzdem noch
unbezahlt mitmachen, die übrigen reagierten gar nicht erst. Da die Räumung der
Villa bevorstand und Walter sich weigerte, mit seiner Frau zu sprechen, rief
Lalitha sie für ihn an. Ein paar Tage später fuhr Patty, während Walter sich im
nächstgelegenen Starbucks versteckte, mit einem Miettransporter vor und packte
die Sachen ein, die sie nicht einlagern wollte.
Am Ende
dieses sehr unangenehmen Tages, Patty war wieder abgereist und Walter aus
seinem koffeinhaltigen Exil zurück, sah sich Lalitha, als sie ihr Blackberry abfragte, mit achtzig neuen Nachrichten von jungen Leuten aus dem
ganzen Land konfrontiert, die sich erkundigten, ob es schon zu spät sei,
FreiRaum noch Unterstützung anzubieten. Ihre E-Mail-Adressen hatten pikantere
Aromen als die liberalerstudi@teurescollege .edus der früheren Bewerber. Da gab es freganerfreak und usbvzielobjekt, fetalporno und
jainistenboy3 und jwlindhjr, @gmail und @cruzio. Bis zum
nächsten Morgen waren hundert weitere Nachrichten eingegangen, dazu Angebote
von Garagenbands in vier Städten - Seattle, Missoula,
Buffalo und Detroit -, bei der Organisation von FreiRaum-Events
in ihrer Community mitzuhelfen.
Wie Lalitha
bald herausfinden sollte, hatten sich die im Lokalfernsehen ausgestrahlten
Mitschnitte von Walters Tirade und dem
sich anschließenden Tumult virusartig ausgebreitet. Unlängst waren
Videostreams per Internet möglich geworden, und der Whitmanville-Clip (KrebsgeschwueraufdemPlaneten.wmv) war blitzschnell in die radikalen Ausläufer der Blogosphäre und auf
die Seiten der 9 /11-Verschwörungstheoretiker,
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