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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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und versuchte, ihn vom Mikrophon fortzuziehen.
    «Nur noch
ein paar Dinge!», rief Walter, wobei er das Mikro aus der Halterung riss und
mit ihm wegtanzte. «Ich möchte sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie für
eines der korruptesten und barbarischsten Unternehmen der Welt arbeiten! Hören
Sie mich? LBI schert sich einen Dreck um Ihre
Söhne und Töchter, die im Irak bluten, solange es seine tausend Prozent Profit
macht! Das weiß ich genau! Ich verfüge über Fakten, die es beweisen! Es ist
Teil der perfekten Mittelschichtwelt, in die Sie eintreten! Nun, da Sie für
LBI arbeiten, können Sie endlich genug Geld verdienen, um zu verhindern, dass
Ihre Kinder zur Army gehen und
in den kaputten Lastern und schludrigen Schutzwesten von LBI sterben!»
    Unterdessen
war das Mikro tot, und Walter schlitterte rückwärts, weg von dem Mob, der sich
jetzt bildete. «Und INZWISCHEN», brüllte er, «FÜGEN WIR DER WELTBEVÖLKERUNG
JEDEN MONAT DREIZEHN MILLIONEN MENSCHEN HINZU! DREIZEHN MILLIONEN MEHR, DIE
EINANDER IM WETTLAUF UM DIE LETZTEN RESSOURCEN UMBRINGEN WERDEN! UND DABEI
JEDES ANDERE LEBEN AUSLÖSCHEN! ES IST EINE PERFEKTE SCHEISSWELT, SOLANGE MAN
NICHT JEDES ANDERE LEBEWESEN DARIN MITZÄHLT! WIR SIND EIN KREBSGESCHWÜR AUF
DEM PLANETEN! EIN KREBSGESCHWÜR AUF DEM PLANETEN!»
    In dem
Moment kriegte er von Coyle Mathis persönlich einen Kinnhaken. Er taumelte zur
Seite, sein Blickfeld mehr und mehr gefüllt mit magnesiumhellen Insekten, seine
Brille verloren, und kam zu dem Schluss, dass er wohl genug gesagt hatte. Er
war nun von Mathis und einem Dutzend weiterer Männer umringt, und die fügten
ihm echte Schmerzen zu. Er fiel hin, versuchte, einem Wald aus Beinen zu
entkommen, die ihn mit ihren Sportschuhen made in China traten. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen, vorübergehend
taub und blind, den Mund voller Blut und mindestens einem abgebrochenen Zahn,
und steckte weitere Tritte ein. Dann ließen die Tritte nach, und andere Hände
waren auf ihm, darunter Lalithas. Als der Ton wiederkam, hörte er sie toben: «Weg von
ihm! Weg von ihm!» Er würgte und spuckte Blut auf den
Boden. Sie ließ ihre Haare in das Blut fallen, als sie ihm ins Gesicht spähte.
«Alles in Ordnung?»
    Er
lächelte, so gut er konnte. «Allmählich besser.»
    «Ach, mein
Chef. Mein armer lieber Chef.»
    «Eindeutig
besser.»
     
    Es war die
Zeit des Vogelzugs, von Flug, Gesang und Sex. In der Neotropis, wo die Vielfalt
so groß war wie nirgendwo sonst auf der Welt, wurden einige hundert Vogelarten
unruhig und ließen die mehreren tausend anderen Arten zurück, viele davon enge
taxonomische Verwandte, die es zufrieden waren, zu bleiben und in drangvoller
Enge zu koexistieren und sich in aller Tropenmuße fortzupflanzen. Von den
Hunderten Tangarenarten Südamerikas hoben genau vier in Richtung der
Vereinigten Staaten ab, riskierten die Katastrophen der Reise wegen der zu
erwartenden Fülle an Nahrung und Nistplätzen in Wäldern der gemäßigten Zone
zur Sommerzeit. Pappelwaldsänger zogen an den Küsten von Mexiko und Texas
entlang nordwärts und schwärmten in die Laubwälder der Appalachen und des
Ozarkplateaus aus. Rubinkehlkolibris mästeten sich an den Blumen von Veracruz
und flogen zwölfhundert Kilometer über den Golf, verbrannten dabei ihr halbes
Körpergewicht und landeten in Galveston, um zu
verschnaufen. Seeschwalben zogen aus einem Subpolargebiet in das andere, Segler
hielten in der Luft kurze Schläfchen, ohne sich je niederzulassen, singfreudige
Drosseln warteten auf einen Südwind und flogen dann zwölf Stunden nonstop,
überquerten ganze Staaten in einer Nacht. Hochhäuser und Stromleitungen,
Windkrafträder, Mobilfunkmasten und Straßenverkehr mähten Millionen Zugvögel
nieder, aber noch mehr Millionen kamen durch, von denen viele genau zu
demselben Baum zurückkehrten, auf dem sie im Vorjahr genistet hatten, zur
selben Hügelkette oder zum selben Feuchtgebiet, wo sie flügge geworden waren,
und wenn es sich um Männchen handelte, begannen sie dort zu singen. Jedes Jahr
mussten sie bei der Ankunft feststellen, dass wieder einige ihrer früheren
Nistgebiete für Parkplätze und Schnellstraßen asphaltiert oder für Palettenholz
gefällt oder zu Bauland erschlossen oder für Ölbohrungen oder den Kohlebergbau
gerodet oder für Einkaufszentren fragmentiert oder für die Ethanolproduktion
untergepflügt oder auf verschiedenartige Weise für Skipisten, Fahrradpfade und
Golfplätze denaturiert worden waren. Die Zugvögel, von

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