Franzen, Jonathan
Bussarde, die alles töten. Jeder
redet von der Friedlichkeit der Natur, aber für mich ist sie das Gegenteil von
friedlich. Ein ständiges Töten. Sogar noch schlimmer als beim Menschen.»
«Für
mich», sagte Walter, «ist der Unterschied der, dass die Vögel nur töten, weil
sie fressen müssen. Sie tun es nicht im Zorn, sie tun es nicht mutwillig. Und
es ist nicht neurotisch. In meinen Augen macht das die
Natur friedlich. Es wird gelebt oder eben nicht gelebt, aber es ist nicht alles
vergiftet von Groll, Neurosen und Ideologie. Es ist eine Befreiung von meiner
eigenen neurotischen Wut.»
«Aber du
wirkst gar nicht mehr wütend.»
«Das kommt
daher, dass ich jede Minute des Tages mit dir zusammen bin und nicht so viele
Kompromisse machen und mich mit Leuten herumschlagen muss. Ich vermute aber, die Wut kommt wieder.»
«Um
meinetwillen ist es mir egal, ob sie wiederkommt», sagte sie. «Ich respektiere
deine Gründe für diese Wut. Sie sind ein Teil dessen, warum ich dich liebe.
Aber es macht mich einfach glücklich, wenn du glücklich bist.»
«Ich denke
immer, du kannst nicht vollkommener werden, als du es ohnehin schon bist»,
sagte er und fasste sie an den Schultern. «Und dann sagst du etwas noch
Vollkommeneres.»
In
Wahrheit aber bekümmerte ihn die Ironie seiner Lage. Indem er seiner Wut, erst
gegenüber Patty und dann in Whitmanville, endlich Luft gemacht und sich
dadurch aus seiner Ehe und aus der Stiftung herausgezogen hatte, waren zwei
Hauptgründe für seine Wut weggefallen. Eine Weile hatte er in seinem Blog
versucht, sein Krebsgeschwür-auf-dem-Planeten-«Heldentum» herunterzuspielen
und zu relativieren sowie zu betonen, dass das Übel das System und nicht
die ehemalige Bewohnerschaft von Forster Hollow sei. Doch
seine Fans hatten ihn dafür so derb und lautstark gescholten («lass dir eier
wachsen, mann, deine rede hat total
gerockt» usw.), dass er schließlich fand, er schulde es ihnen, jeden giftigen
Gedanken, den er auf seinen Fahrten durch West Virginia gehabt hatte, in aller
Offenheit mitzuteilen, jede knallharte Wachstumskritik, die er um der Professionalität
willen hatte hinunterschlucken müssen. Seit seiner Collegezeit hatte er
stichhaltige Argumente und belastende Fakten zusammengetragen; das mindeste,
was er nun tun konnte, war, sie mit jungen Leuten zu teilen, denen sie wie
durch ein Wunder tatsächlich wichtig zu sein schienen. Der überdrehte Furor
seiner Leserschaft war allerdings besorgniserregend und mit seiner
friedfertigen Stimmung unvereinbar. Lalitha wiederum hatte alle Hände voll zu
tun, Hunderte neue Bewerbungen für ein Praktikum zu sichten und diejenigen
anzurufen, die noch am ehesten verantwortungsvoll und gewaltfrei wirkten: Fast
alle, die ihr nicht verrückt vorkamen, waren junge Frauen. Lalithas Engagement
im Kampf gegen die Überbevölkerung war ebenso praktisch und humanitär, wie Walters
abstrakt und misanthropisch war, und wie sehr er sie beneidete und wünschte,
mehr wie sie sein zu können, war ein Maßstab für seine immer tiefer werdende
Liebe zu ihr.
Einen Tag
vor dem letzten Ziel ihrer Vergnügungsreise - Kern County, Kalifornien, Brutgebiet einer beeindruckenden Anzahl von
Singvogelarten - besuchten sie noch Walters Bruder Brent in Mojave, einer
kleinen Stadt nahe dem Luftwaffenstützpunkt, wo er stationiert war. Brent, der
nie geheiratet hatte und dessen persönliches und politisches Idol Senator John
McCain war und dessen seelische Entwicklung mit seinem Eintritt
in die Air Force geendet zu haben schien, hätte sich für Walters Trennung von
Patty oder dessen Beziehung mit Lalitha kaum weniger interessieren können;
mehr als einmal redete er sie mit «Lisa» an. Immerhin zahlte er die
Lunch-Rechnung, und er hatte Neuigkeiten von ihrem Bruder Mitch. «Ich hab mir gedacht», sagte er, «wenn Moms Haus noch leer steht, dann könntest du Mitch ja ne Weile drin wohnen lassen. Er hat weder Telefon noch Adresse,
ich weiß, dass er immer noch trinkt, und er ist rund fünf Jahre mit seinen
Unterhaltszahlungen im Verzug. Weißt ja, er und Stacy hatten, kurz bevor sie sich getrennt haben, noch ein zweites Kind
gekriegt.»
«Wie viele
sind das nun?», sagte Walter. «Sechs?»
«Nein, nur
fünf. Zwei mit Brenda, eins mit Kelly, zwei mit Stacy. Ich glaub, es bringt nichts, ihm Geld zu schicken, das versäuft er
bloß. Aber ich hab mir gedacht, er könnte was zum Wohnen gebrauchen.»
«Sehr
aufmerksam von dir, Brent.»
«Ich mein
ja nur. Ich weiß, wie dein
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