Franzen, Jonathan
Geld brauchen wir das
nicht zu tun. Andere Leute müssen realistisch sein und sich eine berufliche
Laufbahn zimmern und für die Zukunft sparen, aber selbst bei Großvaters
Spendenfreudigkeit wartet da immer noch ein riesiger Goldschatz auf euch.
Nachdem
sie diese Botschaften über Jahre hinweg weitergegeben und zugelassen hatte,
dass sie das Leben ihrer Kinder vermurksten, fühlte Joyce sich nun, angesichts
von Abigails und Veronicas Forderung, das Gut zu veräußern, «zermürbt» und «ein kleines bisschen
schuldig», wie sie Patty mit ihrer zittrigen Stimme gestand. In der
Vergangenheit hatten sich ihre Schuldgefühle unterschwellig manifestiert, in
unregelmäßigen, aber substanziellen Bargeldtransfers an ihre Töchter oder
darin, dass sie sich jedes Urteils enthielt, beispielsweise als Abigail eines
späten Abends an Augusts Krankenhausbett eilte und ihm in letzter Minute einen
Scheck über 10 ooo Dollar abpresste (Patty hörte von diesem Trick durch Galina
und Edgar, die ihn extrem unfair fanden, wobei ihnen, wie ihr schien, vor allem
Verdruss bereitete, dass sie nicht selbst darauf gekommen waren), doch nun
wurde Patty die interessante Genugtuung zuteil, miterleben zu dürfen, wie die
Schuldgefühle ihrer Mutter, die in ihrer liberalen Politik stets implizit
gewesen waren, plötzlich klar zutage traten. «Ich weiß nicht, was Daddy und ich gemacht haben», sagte sie. «Irgendwas müssen wir wohl gemacht
haben. Dass drei von unseren vier Kindern nicht recht in der Lage sind ...
nicht recht in der Lage sind, nun ja. Sich selbst zu ernähren. Ich nehme an,
ich - ach, ich weiß auch nicht. Aber wenn Abigail mich noch ein einziges Mal
auf den Verkauf von Großvaters Haus anspricht... Na, ich denke, also, ich nehme
an, dass ich das irgendwie verdient habe. Ich nehme an, dass ich, auf meine
Art, wohl ein bisschen dafür verantwortlich bin.»
«Du musst
ihr die Stirn bieten», sagte Patty. «Du hast das Recht, dich nicht so von ihr
quälen zu lassen.»
«Was ich
nicht verstehe, ist, warum du so anders
geworden bist, so eigenständig», sagte Joyce. «Du scheinst solche Probleme
jedenfalls nicht zu haben. Ich meine, ich weiß, dass du Probleme hast. Aber du
wirkst... irgendwie stärker.»
Ohne Übertreibung:
Dies gehört zu den zehn Momenten in Pattys Leben, die
ihr die größte Befriedigung verschafft haben.
«Walter
hat sehr gut für uns gesorgt», wandte sie ein. «Er war überhaupt ein toller
Mann. Das hat viel ausgemacht.»
«Und deine
Kinder ...? Sind sie ...?»
«Sie sind
wie Walter. Sie wissen, wie man arbeitet. Und Joey ist so ungefähr der
eigenständigste junge Mann in ganz Nordamerika. Kann schon sein, dass er das
zum Teil von mir hat.»
«Ich würde
... Joey so gern öfter sehen», sagte Joyce. «Ich hoffe ... jetzt, wo alles
anders ist... wo uns ...» Sie gab ein sonderbares Lachen von sich, hart und
ganz und gar gewollt. «Jetzt, wo uns vergeben worden
ist, hoffe ich, dass ich ihn ein bisschen kennenlernen kann.»
«Das würde
ihn bestimmt auch freuen. Er hat angefangen, sich für seine jüdischen Wurzeln
zu interessieren.»
«Oh, na
ja, ich bin mir alles andere als sicher, ob ich dafür die
richtige Gesprächspartnerin bin. Da wendet er sich vielleicht besser an -
Edgar.» Und wieder lachte Joyce auf diese sonderbar gewollte Art.
Es stimmte
gar nicht, dass Edgar jüdischer geworden war, außer im denkbar passivsten
Sinn. In den frühen Neunzigern hatte er getan, was damals jeder Inhaber eines
Doktortitels in Linguistik hätte tun können: Er war Börsenhändler geworden. Als
er aufhörte, ostasiatische Grammatikstrukturen zu untersuchen, und sich mit
Wertpapieren zu beschäftigen begann, verdiente er kurzfristig genügend Geld, um
die Aufmerksamkeit einer hübschen, jungen russischen Jüdin, Galina, auf sich zu
ziehen und auch zu halten. Sobald sie verheiratet waren, kam Galinas
materialistische russische Seite zum Tragen. Sie stachelte Edgar dazu an, immer
mehr Geld zu verdienen und es für eine Villa in Short Hills, New Jersey, und
für Pelzmäntel, schwere Klunker und andere Auffälligkeiten auszugeben. Während
er seine eigene Firma hatte, war Edgar eine Zeitlang so erfolgreich, dass er
auf dem Radarschirm seines für gewöhnlich distanzierten und gebieterischen
Großvaters auftauchte, der ihm, in einem Moment möglicher früher Altersdemenz
kurz nach dem Tod seiner Frau, aus Gewinnsucht erlaubte, sein Aktienportfolio
instand zu setzen, indem er ihn seine amerikanischen Blue Chips
Weitere Kostenlose Bücher