Franzen, Jonathan
ihrer
ältesten Tochter noch deutlicher und Rays spöttische Frotzeleien noch
verstörender. Die ernste Angelegenheit, über die Ray nun verächtlich lachte,
war sein eigener drohender Tod. Sein Körper hatte sich, im Unterschied zu allem
anderen, stark verändert. Er war ausgezehrt und hohläugig und bleich. Zu
Beginn von Pattys Besuch
ging Ray noch jeden Morgen für ein paar Stunden ins Büro, aber auch damit war
es nach einer Woche vorbei. Als sie ihn so krank sah, hasste sie sich dafür,
dass sie ihm lange mit solcher Kälte begegnet war, hasste sich für ihre
kindische Weigerung, ihm zu vergeben.
Nicht dass
Ray nicht immer noch Ray gewesen wäre. Sooft sie ihn in den Arm nahm,
tätschelte er sie ganz kurz und zog dann seine Arme zurück und wedelte damit
in der Luft herum, als könnte er Patty weder zurückumarmen noch wegstoßen. Um
die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, suchte er nach anderen Dingen, über
die man lachen konnte - Abigails Karriere
als darstellende Künstlerin, die Religiosität seiner Schwiegertochter (davon
später mehr), die Beteiligung seiner Frau an dem «Witz» der Parlamentsgeschäfte
und Walters berufliche Maleschen, von denen er in der Times gelesen
hatte. «Klingt, als hätte dein Gatte sich mit einem Haufen Gauner eingelassen»,
sagte er eines Tages. «Als wäre er womöglich selbst ein kleiner Gauner.»
«Er ist
kein Gauner», sagte Patty, «wie du weißt.»
«Das hat
Nixon auch gesagt. Ich erinnere mich an seine Rede, als wäre es gestern
gewesen. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der seiner Nation versichert,
dass er kein Gauner ist. Allein dieses Wort, Gauner. Ich konnte
gar nicht mehr aufhören zu lachen. Zum Schreien.»
«Ich habe
den Artikel über Walter nicht gelesen, aber Joey meint, er ist absolut unfair.»
«Joey ist
doch dein republikanisches Kind, oder?»
«Er ist
jedenfalls konservativer als wir.»
«Abigail
hat uns erzählt, sie musste praktisch die Bettwäsche verbrennen, nachdem er mit
seiner Freundin in ihrer Wohnung gewohnt hatte. Offenbar überall Flecken. Auch
auf den Polstern.»
«Ray, Ray,
ich möchte das nicht hören! Merk dir bitte mal, dass ich nicht wie Abigail bin.»
«Ha. Als
ich den Artikel gelesen habe, musste ich an den Abend denken, an dem Walter
sich so wegen seines Rom-Clubs echauffiert hat. Er war immer irgendwie ein
Kauz. Das war von Anfang an mein Eindruck. Jetzt darf ich das doch sagen,
oder?»
«Warum,
weil wir getrennt sind?»
«Ja, das
auch. Aber eigentlich, weil ich nicht mehr lange leben werde, da kann ich doch
ruhig sagen, was ich denke.»
«Das hast
du immer getan. Viel zu oft.»
Ray
lächelte über irgendeinen Aspekt davon. «Nicht immer, Patty. Seltener sogar,
als du vielleicht glaubst.»
«Nenn mir
eine Sache, die du sagen wolltest, aber nicht gesagt hast.»
«Ich war
nie gut darin, Zuneigung auszudrücken. Ich weiß, wie schwer das für dich war.
Für dich wahrscheinlich am schwersten.
Verglichen
mit den anderen, hast du immer alles so ernst genommen. Und dann hattest du
dieses schreckliche Pech in der Highschool.»
«Ich hatte
schreckliches Pech damit, wie ihr euch verhalten habt!»
Darauf hob
Ray warnend die Hand, als wollte er weiterer Unvernunft vorbeugen. «Patty»,
sagte er. «Stimmt doch!»
«Patty, es
ist... es ist... Wir machen alle Fehler. Was ich sagen will, ist, ich empfinde
viel, hm. Ich empfinde viel Zuneigung zu dir. Sehr viel Liebe. Es fällt mir nur
schwer, das zu zeigen.»
«Tja, da
habe ich wohl Pech gehabt.»
«Ich meine
es ernst, Patty. Ich versuche gerade, dir etwas zu sagen.»
«Das weiß
ich doch, Daddy», sagte sie und brach in einigermaßen bittere Tränen aus. Da
fing er wieder mit dem Getätschel an, legte ihr eine Hand auf die Schulter, zog
sie unentschlossen weg und ließ sie in der Luft hängen; und sie begriff, ein
für alle Mal, dass er nicht anders sein konnte.
Solange er
im Sterben lag und eine private Krankenschwester kam und ging und Joyce sich
unter beträchtlichen verbalen Verrenkungen wegen «wichtiger» Abstimmungen
wiederholt nach Albany verdrückte,
schlief Patty in ihrem Kindheitsbett und las ihre Lieblingskinderbücher noch
einmal und bekämpfte das Haushaltschaos, ohne lange um Erlaubnis zu fragen, ob
sie Zeitschriften aus den 1990er Jahren und
Kisten voller Druckerzeugnisse aus dem Dukakis-Wahlkampf wegwerfen dürfe. Es
war die Saison der Samenkataloge, und dankbar griffen Joyce und sie Joyces
sporadische Gärtnerleidenschaft auf,
Weitere Kostenlose Bücher