Franzen, Jonathan
lernte, war seine
Gleichgültigkeit gegenüber Geld. Sie hatte als Kind das Glück gehabt, selbst
eine solche Gleichgültigkeit entwickeln zu können, und dann, wie es mit
Glückskindern so ist, noch mehr Glück gehabt, indem sie Walters Frau geworden
war, über dessen Nicht-Habgierigkeit sie sich gefreut hatte, ohne groß darüber
nachzudenken oder dankbar dafür zu sein, bis Ray starb und sie wieder in den
Albtraum der Geldproblematik ihrer Familie hineingestoßen wurde. Die Emersons
repräsentierten, wie Walter so oft zu Patty gesagt hatte, eine
Mangelgesellschaft. Soweit das metaphorisch gemeint war (also emotional),
konnte sie manchmal erkennen, dass er recht hatte, aber da sie als die
Außenseiterin aufgewachsen war und sich aus dem Wettstreit ihrer Familie um
alles Materielle herausgehalten hatte, brauchte sie sehr lange, um zu
begreifen, dass das im Hintergrund permanent gegenwärtige und doch immer
unanzapfbare Vermögen von Rays Eltern - die Künstlichkeit des Mangels - allen Schwierigkeiten ihrer Familie zugrunde lag.
Vollends begriff sie das erst, als sie Joyce in den Tagen nach Rays Trauerfeier
zur Rede stellte und sie zwang, ihr die Geschichte des Emerson'schen
Familienanwesens in New Jersey zu erzählen, worauf sie von der Zwickmühle
erfuhr, in der Joyce sich jetzt befand.
Die
Situation war die: Als Rays Witwe war nunmehr Joyce die Besitzerin des
Landguts, das nach Augusts Tod sechs Jahre zuvor auf Ray übergegangen war. Ray
war von seinem Naturell her gut gerüstet gewesen, die inständigen Bitten von Pattys Schwestern Abigail und Veronica, «die Sache
anzugehen» (das heißt, das Gut zu verkaufen und ihnen ihren Anteil
auszuzahlen), mit einem Lachen abzutun und zu ignorieren, aber jetzt, da er tot
war, bekam Joyce von ihren jüngeren Töchtern täglich Druck, Trommelschlägen
gleich, und Joyce war von ihrem Naturell her nicht gut
gerüstet, solchem Druck standzuhalten. Dummerweise hatte sie jedoch dafür, dass
es ihr nicht möglich war, «die Sache anzugehen», noch dieselben Gründe, die
auch Ray gehabt hatte, abzüglich dessen sentimentaler Bindung an das Gut. Wenn
sie es auf den Markt brachte, würden Rays zwei Brüder einen beträchtlichen
moralischen Anspruch auf große Anteile am Verkaufserlös erheben können.
Außerdem wurde das alte Steinhaus gerade von Pattys Bruder Edgar, seiner Frau Galina und ihren bald vier Kindern bewohnt
und war durch Edgars eigenhändige «Instandsetzungen» auf wenig hilfreiche
Weise verunstaltet, denn da er keine Anstellung und keine Ersparnisse und viele
Mäuler zu stopfen hatte, war er über einige willkürliche Abrissarbeiten bisher
nicht hinausgekommen. Noch dazu drohten Edgar und Galina für den Fall, dass
Joyce sie hinauswerfen sollte, in eine israelische Siedlung im Westjordanland
zu ziehen, die einzigen Enkelkinder in Joyces Leben dorthin mitzunehmen und von
den Almosen einer in Miami ansässigen Stiftung zu leben, deren aggressiver
Zionismus Joyce äußerstes Unbehagen bereitete.
Sicher,
sie hatte sich freiwillig für diesen Albtraum entschieden. Rays
vornehm-protestantische Herkunft, der Reichtum seiner Familie und sein
sozialer Idealismus waren für sie als Stipendiatin damals sehr anziehend
gewesen. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, in was sie da hineingesogen werden
würde, welchen Preis sie letztlich bezahlen musste, all die von grässlicher
Exzentrik und kindischen Geldspielereien und Augusts gebieterischer
Unhöflichkeit geprägten Jahrzehnte. Sie, das mittellose jüdische Mädchen aus
Brooklyn, reiste schon bald auf Emerson-Kosten nach Ägypten, Tibet und Ma-chu
Picchu, aß mit Dag Hammarskjöld und Adam Clayton Powell zu
Abend. Wie so viele Menschen, die Politiker werden, war Joyce keine intakte
Persönlichkeit; sie war es sogar noch weniger als Patty. Sie brauchte das
Gefühl, außergewöhnlich zu sein, und indem sie eine
Emerson wurde, fühlte sie sich darin bestätigt, dass sie es war, und als sie
dann Kinder bekam, brauchte sie das Gefühl, dass auch sie außergewöhnlich
waren, um wettzumachen, was ihr im Innersten fehlte. Daher der Refrain von Pattys Kindheit: Wir sind nicht wie andere Familien. Andere Familien sind
versichert, aber Daddy hält
nichts von Versicherungen. Anderer Leute Kinder haben Nachmittagsjobs, aber
wir möchten lieber, dass ihr eure außergewöhnlichen Talente erkundet und eure
Träume zu verwirklichen versucht. Andere Familien müssen sich darum kümmern,
Geld für den Notfall zurückzulegen, aber dank Großvaters
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