Franzen, Jonathan
sodass sie wenigstens ein gemeinsames
Gesprächsthema hatten anstatt gar keins. Aber sooft es ging, saß Patty bei
ihrem Vater, hielt seine Hand und gestattete sich, ihn zu lieben. Beinahe
körperlich spürte sie, wie ihre emotionalen Organe sich neu ordneten, bis ihr
Selbstmitleid am Ende klar zutage trat, in seiner ganzen Obszönität, eine
eklige, purpurrote Geschwulst in ihr, die herausgeschnitten werden musste. Und
während sie so viel Zeit damit verbrachte, ihrem Vater zuzuhören, der sich über
alles lustig machte, wenn auch jeden Tag mit etwas weniger Kraft, erkannte sie,
wie beunruhigend ähnlich sie ihm war, und begann zu begreifen, warum ihre
Kinder an ihrer Fähigkeit, sich einen Spaß aus etwas zu machen, keinen größeren
Spaß fanden und warum sie sich vielleicht hätte zwingen sollen, ihre Eltern in
den kritischen Jahren ihrer eigenen Elternschaft häufiger zu sehen, um Joeys und Jessicas Reaktionen auf sie selber besser nachvollziehen zu
können. Ihr Traum, sich ein neues Leben aufzubauen, ganz von vorne und ganz und
gar unabhängig, war eben das gewesen: ein Traum. Sie war die Tochter ihres
Vaters. Weder er noch sie hatten je wirklich erwachsen werden wollen, und nun
arbeiteten sie gemeinsam daran. Es ist sinnlos zu leugnen, dass Patty, die
immer unter Konkurrenzdruck stehen wird, Genugtuung empfand, weil seine
Krankheit ihr weniger zusetzte, ihr weniger Angst machte als ihren
Geschwistern. Als Mädchen hatte sie glauben wollen, dass er sie über alles
liebte, und jetzt, als sie seine Hand umklammert hielt und versuchte, ihm über
Schmerzdistanzen hinwegzuhelfen, die selbst Morphium nur verkürzen, nicht zum
Verschwinden bringen konnte, wurde es wahr, sie machten es wahr, und es
veränderte Patty.
Bei der
Trauerfeier, die in der Unitarierkirche in Hastings stattfand, fühlte sie sich an die Beerdigung von Walters Vater
erinnert. Auch hier war die Anteilnahme enorm - gut und gern fünfhundert Gäste
waren gekommen. Anscheinend war jeder Jurist, Richter und gegenwärtige oder
frühere Staatsanwalt von Westchester anwesend,
und diejenigen, die Grabreden auf Ray hielten, sagten alle das Gleiche: dass
er nicht nur der fähigste, sondern auch der freundlichste und fleißigste und
ehrlichste Anwalt gewesen sei, den sie je gekannt hätten. Die Dimensionen
seiner beruflichen Reputation waren schwindelerregend für Patty und eine
Offenbarung für Jessica, die neben ihr saß; Patty sah (zutreffenderweise, wie
sich zeigen sollte) schon die Vorwürfe voraus, die Jessica ihr, durchaus zu
Recht, machen würde, weil sie sie um eine bedeutungsvolle Beziehung zu ihrem
Großvater betrogen hatte. Abigail ging auf die Kanzel und sagte etwas im Namen
der Familie, was witzig sein sollte, jedoch unpassend und selbstbezogen war,
und machte es dann zum Teil wieder wett, indem sie sich in Tränen auflöste.
Erst als
die Familie am Ende des Gottesdienstes die Kirche verließ, sah Patty die
Ansammlung nicht privilegierter Menschen in den hinteren Bänken, insgesamt mehr
als einhundert, die meisten davon schwarz, hispanoamerikanisch oder einer
anderen ethnischen Minderheit angehörend, Menschen in allen Gestalten und
Größen, die offensichtlich die besten Kleider trugen, die sie besaßen, Anzüge
und Kostüme, und die würdevolle Geduld derer an den Tag legten, die mehr
Erfahrung mit Beerdigungen hatten als sie; es waren Rays frühere
Pro-bono-Mandanten oder deren Familien. Beim Empfang kamen sie einer nach dem
anderen auf die diversen Emersons, einschließlich Patty, zu, ergriffen deren
Hände, sahen ihnen in die Augen und legten kurz Zeugnis ab, was Ray für sie
geleistet, wie viele Leben er gerettet, wie viel Unrecht er abgewendet, was für
gute Werke er getan hatte. Patty war davon zwar nicht vollkommen überwältigt (dafür wusste sie zu genau um den Preis, der zu Hause
gezahlt wird, wenn einer Gutes in der Welt tut), aber doch ziemlich
überwältigt, und sie konnte nicht aufhören, an Walter zu denken. Jetzt bereute
sie es schmerzlich, ihm wegen seiner Kreuzzüge für andere Lebewesen die Hölle
heiß gemacht zu haben; sie begriff, dass sie es aus Neid getan hatte - Neid auf
seine Vögel, die so uneingeschränkt liebenswert für ihn waren, und Neid auf
Walter selbst, weil er die Gabe hatte, sie zu lieben. Sie wünschte, sie könnte
jetzt, solange er noch lebte, zu ihm gehen und ihm das ganz einfach sagen: Ich
bewundere dich dafür, dass du so gut bist.
Eine
Eigenschaft, die sie an Walter bald besonders zu schätzen
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