Franzen, Jonathan
sich
ihre erfüllen kann.»
«Außer
dass du dir genug Geld wünschst, um nicht mehr arbeiten zu müssen.»
«Ja, das
wäre wirklich schön. Ich bin nicht gern die Sekretärin von irgendwem. Vor allem
hasse ich es, ans Telefon zu gehen.» Sie lachte. «Ich finde, dass die Leute
generell zu viel reden.»
Patty war,
als kämpfte sie mit einem riesengroßen Bazooka-Kaugummibatzen, den sie nicht
von den Fingern abbekam; Veronicas Logik zog
unendlich lange Fäden, die nicht nur an Patty, sondern auch aneinander kleben
blieben.
Später,
als sie mit dem Zug wieder aus New York hinausfuhr, sah sie plötzlich klarer
denn je, wie viel besser situiert und auch erfolgreicher ihre Eltern waren als
sie und ihre Geschwister und wie merkwürdig es schien, dass keins der Kinder
auch nur eine Spur jenes sozialen Verantwortungsbewusstseins geerbt hatte, das
für Joyce und Ray ein Leben lang der Motor ihres Tuns gewesen war. Sie wusste,
dass Joyce deshalb ein schlechtes Gewissen plagte, vor allem der armen Veronica wegen, aber sie wusste auch, dass es für ihr Ego ein furchtbarer
Schlag gewesen sein musste, so wenig schmeichelhafte Kinder zu haben, und dass
sie vermutlich Rays Genen, dem Fluch des alten August Emerson, die Schuld an
der Seltsamkeit und Lebensuntauglichkeit ihrer Kinder gab. Und da ging Patty
auf, dass Joyces politische Karriere die Probleme ihrer Familie nicht nur verursacht
oder verschlimmert hatte: Sie war für sie auch ein Fluchtweg aus diesen
Problemen gewesen. Im Rückblick lag für Patty etwas Schmerzliches oder sogar
Bewundernswertes in Joyces Entschlossenheit, sich zu absentieren, um
Politikerin zu werden und Gutes in der Welt zu tun und sich damit selbst zu
retten. Und da Patty ebenfalls jemand war, der extreme Maßnahmen ergriffen
hatte, um sich selbst zu retten, erkannte sie, dass nicht nur Joyce sich
glücklich schätzen konnte, eine Tochter zu haben wie sie: Auch Patty konnte
sich glücklich schätzen, eine Mutter zu haben wie Joyce.
Aber es
gab immer noch einen wichtigen Punkt, den sie nicht verstand, und als Joyce am
Nachmittag darauf aus Albany zurückkehrte,
voller Wut auf die Republikaner im Senat, die die Regierung des Staates lähmten
(leider Gottes war seit Rays Tod niemand mehr da, der sie wegen der Mitschuld
der Demokraten an dieser Lähmung auf die Schippe nahm), erwartete Patty sie in
der Küche mit einer Frage. Sie stellte sie, sobald Joyce ihren Regenmantel
abgelegt hatte: «Warum bist du nie zu meinen Basketballspielen gekommen?»
«Du hast
recht», sagte Joyce augenblicklich, als hätte sie mit der Frage seit dreißig
Jahren gerechnet. «Du hast recht, du hast recht, du hast recht. Ich hätte öfter
zu deinen Spielen kommen sollen.»
«Und warum
hast du es nicht getan?»
Joyce
überlegte einen Moment. «Ich kann es nicht richtig erklären», sagte sie.
«Außer damit, dass wir so viel um die Ohren hatten, wir konnten eben nicht
überall hin. Wir haben Fehler gemacht als Eltern. Inzwischen wirst du sicher
auch ein paar gemacht haben. Du weißt doch sicher, wie kompliziert alles wird
und wie viel immer zu tun ist. Was für ein Kampf es ist, allem gerecht zu
werden.»
«Aber die
Sache ist doch die», sagte Patty. «Für andere Dinge hattest du durchaus Zeit.
Es waren ganz speziell meine Spiele, zu
denen du nicht gekommen bist. Und ich rede nicht von allen Spielen - du bist
zu gar keinem Spiel gekommen.»
«Ach,
warum musst du jetzt davon anfangen? Ich habe doch schon gesagt, dass es mir
leidtut und dass ich einen Fehler gemacht habe.»
«Ich werfe
es dir ja gar nicht vor», sagte Patty. «Ich frage nur deshalb, weil ich richtig
gut im Basketball war. Ich war wirklich richtig gut.
Wahrscheinlich habe ich als Mutter mehr Fehler gemacht als du, es ist also
keine Kritik. Ich glaube bloß, dass es dich glücklich gemacht
hätte zu sehen, wie gut ich war. Wie talentiert. Es hätte dir selbst gutgetan.»
Joyce
wandte den Blick ab. «Ich habe mich wohl nie so für Sport interessiert.»
«Aber
Edgars Fechtwettkämpfe hast du dir angeschaut.»
«Selten.»
«Häufiger
als meine Spiele. Und es ist ja nun nicht so, dass du Fechten so spannend
fändest. Oder Edgar besonders gut darin gewesen wäre.»
Joyce,
deren Selbstbeherrschung normalerweise perfekt war, ging an den Kühlschrank und
nahm eine Flasche Weißwein heraus, die Patty am Abend zuvor fast leer gemacht
hatte. Sie goss den Rest in ein Saftglas, trank die Hälfte davon, lachte über
sich selbst und trank das Glas aus.
«Ich
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