Franzen, Jonathan
weiß
nicht, warum deine Schwestern nicht besser zurechtkommen», sagte sie,
anscheinend ohne Bezug. «Aber Abigail hat einmal etwas Denkwürdiges zu mir
gesagt. Etwas Schreckliches, das mich noch heute quält. Ich sollte es dir
wahrscheinlich nicht erzählen, aber irgendwie vertraue ich darauf, dass du es
für dich behältst. Abigail war sehr... angeheitert. Das war noch zu der Zeit,
als sie versuchte, Theaterschauspielerin zu werden. Es gab da eine grandiose
Rolle, von der sie gedacht hatte, sie werde sie bekommen, aber dann bekam sie
sie doch nicht. Und ich wollte ihr Mut machen, indem ich ihr sagte, dass ich an
ihr Talent glaube und dass sie es weiter versuchen soll. Und da hat sie etwas
ganz Schreckliches zu mir gesagt. Sie hat gesagt, ich sei der
Grund, warum sie es nicht geschafft hat. Ich, die ich nie, nie, nie etwas
anderes getan habe, als sie zu unterstützen. Aber das hat sie gesagt.»
«Hat sie
es dir erklärt?»
«Sie sagte
...»Joyce blickte traurig in ihren Blumengarten hinaus. «Sie sagte, der Grund,
warum sie nicht erfolgreich sein könne, sei der, dass ich ihr jeden Erfolg
wegnähme. Es sei dann jedes Mal mein Erfolg,
nicht ihrer. Was gar nicht stimmt! Aber so hat sie es empfunden. Und um mir zu
zeigen, wie sie sich fühlte, und mich weiterhin leiden zu lassen, damit ich
bloß nicht auf die Idee kam, dass alles in Ordnung war, blieb ihr nichts
anderes übrig, als auch weiterhin nicht erfolgreich zu sein. Ach, der Gedanke
daran macht mich heute noch krank! Ich habe ihr gesagt, dass es nicht stimmt,
und ich hoffe, sie hat es mir geglaubt, denn es stimmt
wirklich nicht.»
«Na gut»,
sagte Patty, «das ist hart. Aber was hat das mit meinen Basketballspielen zu
tun?»
Joyce
schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Es kam mir nur plötzlich in den Sinn.»
«Ich hatte
ja Erfolg, Mommy. Das ist
doch das Seltsame. Ich hatte auf ganzer Linie Erfolg.»
Da, auf einmal,
zog sich Joyces Gesicht ganz furchtbar zusammen. Sie schüttelte erneut den
Kopf, wie vor Widerwillen, und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. «Ich
weiß», sagte sie. «Ich hätte da sein sollen. Ich mache mir selber Vorwürfe.»
«Ist schon
in Ordnung, dass du nicht da warst. Langfristig gesehen vielleicht sogar
besser. Ich habe nur interessehalber gefragt.»
Joyces
Schlusswort, nach langem Schweigen, lautete: «Mein Leben ist wohl nicht immer
glücklich oder einfach gewesen oder so verlaufen, wie ich es wollte. Ab einem
bestimmten Punkt muss ich mich
bemühen, über manches nicht zu viel nachzudenken, denn sonst bricht es mir das
Herz.»
Und damit
musste Patty sich begnügen, damals wie später. Es war nicht viel, es löste
keine Rätsel, aber es würde reichen müssen. Am Abend präsentierte Patty ihr
die Ergebnisse ihrer Nachforschungen und schlug einen Aktionsplan vor, dem
Joyce, mit viel lammfrommem Nicken, in allen Einzelheiten zustimmte. Das Gut
würde verkauft werden, und Joyce würde die Hälfte des Erlöses Rays Brüdern
geben, Edgars Anteil am verbleibenden Rest in einem Fonds anlegen, von dem er
und Galina (vorausgesetzt, sie emigrierten nicht) zehren konnten, und Abigail
und Veronica substanzielle Summen auszahlen.
Patty, die sich am Ende einverstanden erklärte, 75 ooo $ als
Starthilfe für ein neues Leben ohne Walters Unterstützung anzunehmen,
verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen gegenüber Walter, wenn sie an
die unberührten Wälder und unbebauten Felder dachte, die durch ihr Zutun jetzt
dazu verdammt waren, parzelliert und erschlossen zu werden. Sie hoffte, Walter
werde vielleicht verstehen, dass das kollektive Unglück der Reisstärlinge,
Spechte und Trupiale, deren Heimat sie zerstört hatte, in diesem speziellen
Fall nicht größer war als das der Familie, die das Land verkaufte.
Und das
immerhin kann die Autobiographin über ihre Angehörigen sagen: Das Geld, auf
das sie so lange gewartet und dessentwegen sie sich derart ungehobelt benommen
hatten, war nicht völlig an sie verschwendet. Insbesondere Abigail blühte auf,
sobald sie sich in ihrer Boheme finanziell ein wenig wichtig machen konnte.
Jetzt ruft Joyce bei Patty an, wann immer Abigails Name wieder in der Times steht; sie
und ihre Truppe sind in Italien, Slowenien und anderen europäischen Ländern
offenbar die Stars. Veronica darf
sowohl in ihrer Wohnung als auch in einem Ashram nördlich von New York und in ihrem Atelier allein sein, und vielleicht
werden ja spätere Generationen ihre Bilder, egal wie hermetisch und nie
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