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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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musterte sie eingehend, Stück für Stück. Ihr kam es vor, als
würde sie mit seinen Blicken stückweise immer weiter an die Wand hinter ihr
getackert, sodass sie, nachdem er sie von oben bis unten gemustert hatte, ganz
und gar zweidimensional und an der Wand befestigt war. «Hast du den Ordner
gesehen?», sagte er.
    «Hm.
Ordner?»
    «Ich zeig
ihn dir», sagte er. «Wird dich interessieren.»
    Er ging in Elizas Zimmer, kam zurück und gab Patty
ein DIN-A4-Ringbuch, dann setzte er sich wieder und las weiter in seinem Roman,
als hätte er vergessen, dass sie da war. Es handelte sich um ein altmodisches
Ringbuch mit hellblauem Leinendeckel, auf dem in Blockbuchstaben, mit Tinte
geschrieben, PATTY stand. Soweit Patty das beurteilen konnte, enthielt es alle
Fotos von ihr, die je im Sportteil der Minnesota Daily abgedruckt
gewesen waren, alle Postkarten, die sie Eliza je geschickt hatte, alle
Fotostreifen, für die sie sich je zusammen in eine Kabine gequetscht hatten,
und alle Blitzlichtschnappschüsse von ihrem Haschbrownies-Wochenende. Das Buch
erschien Patty ein bisschen seltsam und extrem, vor allem aber erfüllte es sie
mit Traurigkeit Elizas wegen -
Traurigkeit und Reue, dass sie daran gezweifelt hatte, ob sie Eliza tatsächlich
etwas bedeutete.
    «Ist schon
ein eigenartiges Mädchen», bemerkte Richard vom Sofa aus.
    «Wo hast
du das gefunden?», sagte Patty. «Schnüffelst du immer in den Sachen der Leute rum, bei denen du die Nacht verbringst?»
    Er lachte. «J'accuse!»
    «Und, tust
du das?»
    «Reg dich
ab. Es war direkt hinter dem Bett. Vor aller Augen, wie die Bullen sagen.»
    Elizas Duschgeräusche hatten aufgehört.
    «Leg es
wieder zurück», sagte Patty. «Bitte.»
    «Ich
dachte, es würde dich interessieren», sagte Richard, ohne sich vom Fleck zu
rühren.
    «Bitte leg
es wieder dahin, wo es war.»
    «Mir
schwant allmählich, dass du selbst keinen entsprechenden Ordner hast.»
    «Jetzt
sofort, bitte.»
    «Sehr
eigenartiges Mädchen», sagte Richard und nahm ihr das Ringbuch ab. «Deshalb
habe ich vorhin gefragt, was es mit dir auf sich hat.»
    Elizas gekünsteltes Verhalten gegenüber Männern, das nicht abzustellende
Gekicher, der Überschwang und das ewige Haaregeschüttel, konnten eine Freundin
von ihr schnell rasend machen. Ihr verzweifelter Versuch, Richard zu gefallen,
vermischte sich in Pattys Wahrnehmung
mit der Seltsamkeit des Ordners und der enormen Bedürftigkeit, von der er
zeugte, und zum ersten Mal war es ihr ein bisschen peinlich, mit Eliza
befreundet zu sein. Was merkwürdig war, weil es Richard ja auch nicht peinlich
zu sein schien, dass er mit ihr schlief, und warum hätte es Patty überhaupt
kümmern sollen, was er über ihre Freundschaft dachte?
    Ihre
nächste Begegnung mit Richard fiel auf einen ihrer letzten Tage in der
Kakerlakenhöhle. Wieder saß er auf dem Sofa, aber diesmal hatte er die Arme
vor der Brust verschränkt, klopfte mit dem rechten gestiefelten Fuß laut auf
den Boden und verzog das Gesicht, während Eliza dastand und nicht anders
Gitarre spielte, als Patty sie je hatte spielen hören: unsicher. «Bleib im
Takt», sagte er. «Klopf mit dem Fuß mit.» Aber Eliza, die vor Konzentration
schwitzte, hörte ganz zu spielen auf, als sie bemerkte, dass Patty da war.
    «Vor ihr
kann ich nicht spielen.»
    «Natürlich
kannst du das», sagte Richard.
    «Nein, sie
kann es wirklich nicht», sagte Patty. «Ich mache sie nervös.»
    «Interessant.
Und woran liegt das?»
    «Keine
Ahnung», sagte Patty.
    «Sie ist
zu motivierend», sagte Eliza. «Ich kann spüren, wie sie unbedingt will, dass
ich es hinkriege.»
    «Das ist
aber sehr böse von dir», sagte Richard zu Patty. «Du musst unbedingt wollen,
dass sie es nicht hinkriegt.»
    «Na
schön», sagte Patty. «Ich will, dass du versagst. Schaffst du das? Offenbar
bist du ja ziemlich gut darin.»
    Eliza sah
sie überrascht an. Patty war selbst überrascht von sich. «Entschuldigt mich,
ich gehe jetzt in mein Zimmer», sagte sie.
    «Erst
wollen wir sie noch versagen hören», sagte Richard.
    Aber Eliza
nahm schon den Gurt ab und zog den Stecker.
    «Du musst
mit Metronom üben», sagte Richard zu ihr. «Hast du eins?»
    «Das Ganze
war eine blöde Idee», sagte Eliza. «Spiel du doch mal
was», sagte Patty zu Richard. «Ein andermal», sagte er.
    Aber Patty
musste jetzt daran denken, wie peinlich es ihr gewesen war, als er ihr den
Ordner gezeigt hatte. «Einen Song», sagte sie. «Einen Akkord. Spiel
einen Akkord. Eliza sagt, du

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