Franzen, Jonathan
Ahnung.»
«Ich finde
es falsch», sagte Seth, «sich an der Ahnungslosigkeit anderer Eltern zu weiden.
Du forderst damit das Schicksal heraus, meinst du nicht?»
«Entschuldige,
aber es ist einfach zu köstlich. Ich fürchte, du musst dir die Schadenfreude
für mich mit verkneifen und so unser Schicksal in Schach halten.»
«Mir tut
sie leid.»
«Also, mit
Verlaub, ich finde es zum Schreien.»
Gegen Ende
jenes Winters brach Walters Mutter in dem Damenbekleidungsgeschäft in Grand Rapids, wo sie arbeitete, infolge einer Lungenembolie ohnmächtig zusammen. In
der Barrier Street kannte man Mrs. Berglund von ihren Besuchen an Weihnachten, den Geburtstagen der
Kinder sowie ihrem eigenen Geburtstag, an dem Patty ihr jedes Jahr eine Massage
bei einer ortsansässigen Krankengymnastin schenkte und sie mit Lakritze,
Macadamianüssen und weißer Schokolade, ihren Lieblingssüßigkeiten, versorgte.
Merrie Paulsen nannte sie nicht unfreundlich
«Miss Bianca», nach der bebrillten Mäusedame in den Kinderbüchern von Margery Sharp. Mrs. Berglund
hatte ein krepppapierenes, einstmals hübsches Gesicht und einen Tremor im
Kiefer und in den Händen, von denen die eine durch Arthritis im Kindesalter arg
verkümmert war. Nach lebenslanger harter Arbeit für seinen Suffkopf von Vater,
mit dem sie das kleine Motel in der Nähe von Hibbing betrieben hatte, sei sie
ausgezehrt, sagte Walter verbittert, ein körperliches Wrack, aber da sie
entschlossen war, auch als Witwe unabhängig zu bleiben und sich ihre Eleganz zu
bewahren, fuhr sie weiterhin mit ihrem alten Chevy Cavalier zu dem Bekleidungsgeschäft. Als Patty und Walter von ihrem
Zusammenbruch hörten, eilten sie gen Norden und ließen Joey in der Obhut seiner ihn mit Verachtung strafenden großen Schwester
zurück. Kurz nach dem Teenie-Fickfestival, das er daraufhin, in offener
Auflehnung gegen Jessica, auf seinem Zimmer abhielt und das erst mit dem
plötzlichen Tod und Begräbnis von Mrs. Berglund
ein Ende fand, wurde Patty dann zu einer ganz anderen, einer sehr viel
sarkastischeren Nachbarin.
«Ach, Connie, na ja», ging jetzt die Melodie, «so ein nettes Mädchen aber auch, so
ein stilles, harmloses Mädchen mit einer so anständigen Mutter. Carol soll übrigens einen neuen Freund haben, einen richtigen Hengst von
einem Mann, ungefähr halb so alt wie sie. Wäre es nicht schrecklich, wenn sie
jetzt wegziehen würden, nach allem, was Carol getan hat,
um uns das Leben zu verschönern? Und Connie, ja, die
würde ich auch vermissen. Haha. So still und nett und dankbar.»
Patty sah
furchtbar aus, fahl, übernächtigt, unterernährt. Sie hatte lange gebraucht, um
so alt auszusehen, wie sie war, aber nun war Merrie Paulsens Warten darauf
endlich belohnt worden.
«Jetzt dürfte
sie's kapiert haben», sagte sie zu Seth.
«Raub
ihres Löwenjungen - das schlimmste Verbrechen», sagte Seth.
«Raub,
ganz genau», sagte Merrie. «Das arme, vorbildliche Unschuldslamm Joey, geklaut von dem kleinen Intelligenzbolzen von nebenan.»
«Na ja, immerhin
ist sie anderthalb Jahre älter als er.»
«Auf dem
Papier.»
«Du kannst
sagen, was du willst», sagte Seth, «aber Patty hat Walters Mutter wirklich
geliebt. Bestimmt ist sie sehr traurig.»
«O ja, ich
weiß, ich weiß. Seth, das weiß ich doch. Und jetzt kann ich sie auch aufrichtig
bemitleiden.»
Nachbarn,
die den Berglunds näherstanden als die Paulsens, berichteten, Miss Bianca habe
ihr Mäusehäuschen an einem kleinen See unweit von Grand Rapids ausschließlich Walter vermacht und nicht seinen beiden Brüdern. Dem
Vernehmen nach gab es zwischen Walter und Patty Unstimmigkeiten darüber, wie
sie damit umgehen sollten: Walter wollte das Haus verkaufen und den Erlös mit
seinen Brüdern teilen, und Patty vertrat die Meinung, er müsse den Wunsch
seiner Mutter respektieren, ihn dafür zu belohnen, dass er der gute Sohn
gewesen sei. Der jüngere Bruder war Berufssoldat und lebte in der Mojave-Wüste
auf dem dortigen Luftwaffenstützpunkt, während der ältere sein
Erwachsenenleben damit zugebracht hatte, das väterliche Programm maßlosen
Trinkens weiterzuentwickeln, ihre Mutter finanziell auszubeuten und sie
ansonsten zu vernachlässigen. Walter und Patty waren jeden Sommer für ein,
zwei Wochen mit den Kindern zu seiner Mutter gefahren und hatten häufig noch
eine oder zwei von Jessicas Freundinnen aus der Nachbarschaft mitgenommen, die
hinterher berichtet hatten, es sei dort waldig und rustikal und an der
Ungezieferfront nicht allzu
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