Franzen, Jonathan
ich denn gesagt? Ich habe
gesagt, ich gehe jetzt ins Bett, und wir sehen uns morgen früh. Das ist alles,
was ich gesagt habe! Ich habe gesagt, dass mir meine Familie wichtig ist. Genau
das habe ich gesagt.»
Er sah sie
sehr ungehalten und skeptisch an. «Im Ernst!»
«Schon
gut», sagte er. «Ich wollte nichts unterstellen. Habe mich nur gefragt, wo die
Anspannung herkommt. Du erinnerst dich vielleicht, dass wir schon mal so eine
Unterhaltung geführt haben.»
«Ja, daran
erinnere ich mich durchaus.»
«Deshalb dachte
ich mir, ich spreche es besser mal an.»
«Sehr
schön. Freut mich. Du bist wirklich ein guter Freund. Und du brauchst nicht zu
denken, du müsstest meinetwegen morgen abfahren. Es gibt nichts, wovor du
Angst haben musst. Keinen Grund zur Flucht.»
«Danke.
Kann sein, dass ich trotzdem fahre.»
«Schön.»
Und sie
ging nach drinnen und legte sich in Dorothys Bett, in
dem Richard geschlafen hatte, bis sie und Walter aufkreuzten und ihn daraus
vertrieben. Kühle Luft kam aus den Ecken, in denen sie sich während des langen
Tages versteckt gehalten hatte, aber alle Fenster waren noch von blauem
Zwielicht erfüllt. Es war Traumlicht, Wahnlicht, das sich weigerte zu
verschwinden. Sie schaltete eine Lampe an, um es abzuschwächen. Die
Widerstandskämpfer waren enttarnt worden! Das Spiel war aus! Sie lag in ihrem
Flanellschlafanzug da und rekapitulierte, was sie in den letzten Stunden
gesagt hatte, und war von fast allem entsetzt. Sie hörte die melodiöse
Resonanz der Kloschüssel, als Richard seine Blase in sie entleerte, dann die
Spülung und das melodiöse Wasser in den Rohren und, in tieferer Stimmlage, die
Wasserpumpe, die sich kurz abrackerte. Zur schieren Erholung von sich selbst
nahm sie Krieg und Frieden in die Hand und las lange.
Die
Autobiographin wusste gern, ob die Dinge sich anders entwickelt hätten, wenn
sie nicht ausgerechnet an die Stelle gekommen wäre, wo sich Natascha Rostowa,
die offenbar für den trotteligen und braven Pierre bestimmt war, in dessen
großartigen, lässigen Freund Fürst Andrej verliebt. Darauf war Patty nicht
gefasst gewesen. Pierres Niederlage entfaltete sich für sie beim Lesen wie eine
Katastrophe in Zeitlupe. Wahrscheinlich hätten sich die Dinge nicht anders entwickelt,
aber der Effekt, den diese Seiten auf sie hatten, ihre Bedeutsamkeit, war
beinahe psychedelisch. Sie las bis nach Mitternacht, jetzt sogar von dem
militärischen Zeug fasziniert, und als sie die Lampe ausschaltete, stellte sie
erleichtert fest, dass das Zwielicht endlich verschwunden war.
Im Schlaf,
zu irgendeiner noch dunklen Stunde danach, stand sie auf, öffnete die Tür zum
Flur und dann die zu Richards Zimmer und kroch zu ihm ins Bett. Das Zimmer war
kalt, und sie drängte sich an ihn.
«Patty»,
sagte er.
Aber sie
schlief und schüttelte den Kopf, wollte nicht aufwachen, dagegen kam niemand
an, im Schlaf war sie sehr resolut. Sie legte sich auf und über ihn, um den
Körperkontakt zu maximieren, fühlte sich groß genug, ihn ganz zu bedecken,
presste ihr Gesicht an seinen Kopf.
«Patty.»
«Mm.»
«Falls du
schläfst, musst du jetzt aufwachen.»
«Nein, ich
schlafe ... Ich schlafe. Weck mich nicht.»
Sein Penis
machte deutliche Anstalten, sich aus seinen Shorts zu befreien. Sie rieb ihren
Bauch daran.
«Entschuldige»,
sagte er, sich unter ihr windend. «Du musst jetzt aufwachen.»
«Nein,
weck mich nicht. Nimm mich einfach.»
«Mann.» Er
versuchte, ihr zu entkommen, aber sie folgte ihm amöbenhaft. Er packte sie an
den Handgelenken, um sie sich vom Leib zu halten. «Wenn eine nicht bei
Bewusstsein ist, hört's bei mir auf, ob du's glaubst oder nicht.»
«Mm»,
sagte sie und knöpfte sich den Schlafanzug auf. «Wir schlafen doch beide.
Träumen bloß wunderschön.»
«Ja, aber
morgens ist man irgendwann wieder wach und erinnert sich an seine Träume.»
«Aber wenn
es doch nur Träume sind... Ich träume. Schlafe jetzt wieder ein. Du auch. Du
schläfst auch ein. Gleich schlafen wir beide ... und dann bin ich wieder weg.»
Dass sie
all dies sagen und es nicht nur sagen, sondern sich später auch deutlich daran
erinnern konnte, wirft zugegebenermaßen Zweifel an der Authentizität ihres
Schlafzustands auf. Aber die Autobiographin hält eisern an ihrer
Behauptung fest, dass sie in dem Moment, als sie Walter betrog und spürte, wie
sein Freund sie aufspaltete, nicht wach war. Vielleicht lag das daran, dass
sie es dem sagenhaften Vogel Strauß nachtat und die Augen fest
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