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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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hielt, vielleicht auch daran, dass sie hinterher keine Erinnerung an ein
besonderes Lustgefühl hatte, sondern nur ein abstraktes Bewusstsein von der
begangenen Tat, aber wenn sie ein Gedankenexperiment durchführt und sich
vorstellt, im Verlauf dieser Tat habe ein Telefon geklingelt, ist der Zustand,
in den sie sich in ihrer Vorstellung schockartig versetzt fühlt, der
Wachzustand, woraus sich logischerweise folgern lässt, dass sie sich, solange
keinerlei Telefon klingelte, im Schlafzustand befunden haben muss.
    Erst nach
vollendeter Tat wachte sie auf, durchaus alarmiert, besann sich und begab sich
schnell in ihr eigenes Bett zurück. Ehe sie sich's versah, war bereits Licht in
den Fenstern. Sie hörte Richard aufstehen und im Badezimmer pinkeln.
Angestrengt versuchte sie, die Geräusche, die er anschließend machte, zu
entschlüsseln - herauszufinden, ob er seine Sachen in den Wagen packte oder
wieder an die Arbeit ging. Es klang, als gehe er wieder an die Arbeit! Als sie
sich endlich ein Herz fasste und aus ihrem Versteck kam, fand sie Richard
hinter dem Haus, wo er auf dem Boden kniete und einen Stapel Abfallholz
sortierte. Die Sonne war zwar da, aber nur als matte Scheibe inmitten dünner
Wolken. Ein Wetterwechsel kräuselte die Oberfläche des Sees. Ohne all die
blendende Helle und Scheckigkeit wirkten die Wälder karger und verlassener.
    «Hey,
guten Morgen», sagte Patty.
    «Morgen»,
sagte Richard, ohne zu ihr aufzublicken.
    «Hast du
schon gefrühstückt? Möchtest du irgendwas frühstücken? Kann ich dir Eier
machen?»
    «Ich habe
Kaffee getrunken, danke.»
    «Ich mache
dir ein paar Eier.»
    Er stand
auf, stützte, immer noch ohne sie anzusehen, die Hände in die Hüften und
musterte das Holz. «Ich bringe hier ein bisschen Ordnung rein, damit Walter
weiß, was da ist.»
    «Klar.»
    «Ich
brauche ein, zwei Stunden, um meinen Kram zusammenzupacken. Du gehst am besten
einfach deinen Dingen nach.»
    «Klar.
Kann ich dir irgendwie helfen?»
    Er
schüttelte den Kopf.
    «Sicher,
dass du kein Frühstück willst?»
    Hierauf
gab er keine wie auch immer geartete Antwort.
    Mit
sonderbarer Klarheit sah sie plötzlich so etwas wie eine PowerPoint-Liste von
Namen vor sich, nach der Anständigkeit ihrer Träger in absteigender Reihenfolge
geordnet, ganz oben natürlich Walters, dicht gefolgt von Jessicas und, mit
etwas weiterem Abstand, Joeys und
Richards, und ganz unten, am Tabellenende, auf dem allerletzten Platz, einsam
und hässlich, ihr eigener.
    Sie nahm
sich Kaffee mit in ihr Zimmer, setzte sich hin und horchte auf die Geräusche
von Richards Aufräumarbeiten, das Geklapper von Nägeln, die in Schachteln
geworfen wurden, das Gerumpel von Werkzeugkästen. Am späten Vormittag wagte sie
sich hinaus, um ihn zu fragen, ob er vor seiner Abfahrt nicht wenigstens noch
etwas essen wolle. Er willigte ein, wenn auch keineswegs freundlich. Zum Weinen
war sie zu eingeschüchtert, also ging sie in die Küche und kochte Eier für
einen Eiersalat. Ihre Vorstellung oder Hoffnung oder Phantasie, soweit sie sich
erlaubt hatte, bewusst eine zu hegen, war die gewesen, dass Richard seine
Absicht, an diesem Tag abzufahren, fallenlassen und dass sie in der Nacht
darauf erneut schlafwandeln würde und am nächsten Tag alles genauso schön und
unausgesprochen wäre, dann weiteres Schlafwandeln und noch ein weiterer
schöner Tag, bevor Richard seinen Wagen beladen und nach New York zurückfahren
würde, und viel später in ihrem Leben würde sie sich an die erstaunlichen,
intensiven Träume zurückerinnern, die sie in einer Handvoll von Nächten am
Namenlosen See gehabt hatte, und sich aus sicherem Abstand fragen, ob damals
eigentlich etwas vorgefallen war. Diese alte Vorstellung (oder Hoffnung oder
Phantasie) war nun zerstört. Ihr neuer Plan verlangte, dass sie sich sehr
bemühen musste, die vergangene Nacht aus ihrem Gedächtnis zu streichen und so
zu tun, als hätte sie nie stattgefunden.
    Was der
neue Plan ganz gewiss nicht beinhaltete,
war, das Mittagessen halb gegessen auf dem Tisch stehen zu lassen und ihre
Jeans auf dem Boden wiederzufinden und zu spüren, wie der Schritt ihres
Badeanzugs auf einer Seite schmerzhaft einschnitt, während Richard sie an der
sittsam tapezierten Wand von Dorothys ehemaligem
Wohnzimmer bis zur Ekstase vögelte, bei helllichtem Tag und so wach, wie ein
Mensch nur sein kann. Es blieb keine Spur dort an der Wand, und doch war die
Stelle danach auf ewig klar und deutlich markiert; eine kleine

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