Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
Vom Netzwerk:
aufzuwiegen. Ihr wurde, anders gesagt, bewusst,
was es bedeutete, zu einem zutiefst unglücklichen Menschen geworden zu sein.
Und doch beneidet und bemitleidet die Autobiographin die jüngere Patty, wie sie
da im Coop von Fen City steht und in aller
Unschuld glaubt, dass sie am Tiefpunkt angelangt sei: dass sich die Krise, auf
die eine oder andere Weise, in den folgenden fünf Tagen lösen werde.
    Ein pummeliger
Teenager an der Kasse zeigte jetzt Interesse an ihrer Paralysiertheit. Patty
warf dem Mädchen ein irres Lächeln zu und ging los, um ein in Plastik
verpacktes Huhn, fünf hässliche Kartoffeln und ein paar armselige, schlappe
Lauchstangen zu holen. Das Einzige, sagte sie sich, was noch schlimmer wäre,
als ihrer Angst im nicht betrunkenen Zustand ausgesetzt zu sein, war, betrunken
und ihr trotzdem ausgesetzt zu sein.
    «Ich
schiebe uns gleich ein Huhn in den Ofen», sagte sie zu Richard, als sie wieder
zu Hause war.
    Sägemehl
hing ihm in den Haaren und Augenbrauen und klebte an seiner verschwitzten
breiten Stirn. «Das ist sehr nett von dir», sagte er.
    «Sieht
wirklich toll aus, die Terrasse», sagte sie. «Ein echter Gewinn. Was meinst
du, wie lange du noch brauchen wirst?»
    «Paar Tage
vielleicht.»
    «Also, den
Rest können Walter und ich auch erledigen, wenn du wieder nach New York zurück
möchtest. Du wolltest doch eigentlich längst wieder dort sein.»
    «Ich
bringe Arbeiten gern zu Ende», sagte er. «Wird nicht mehr als ein paar Tage
dauern. Oder wärst du hier lieber allein?»
    «Ob ich
hier lieber allein wäre?»
    «Immerhin
mache ich ganz schön viel Lärm.»
    «Nein
nein, ich mag das. Baulärm hat irgendwie was Beruhigendes.»
    «Es sei
denn, er kommt von den Nachbarn.»
    «Na ja, diese
speziellen Nachbarn hasse ich nun mal, das kann man nicht vergleichen.»
    «Stimmt.»
    «Dann
kümmere ich mich jetzt wohl am besten mal um das Huhn.»
    Damit, wie
sie das gesagt hatte, musste sie sich verraten haben, denn Richard sah sie mit
einem leichten Stirnrunzeln an. «Alles in Ordnung?»
    «Nein nein
nein», sagte sie. «Ich bin so gern hier oben. Unheimlich gern. Es gibt für
mich auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort. Dadurch löst sich
nichts, wenn du weißt, was ich meine. Aber hier stehe ich morgens gerne auf.
Und ich rieche die Luft so gern.»
    «Was ich
meinte, war: Ist es in Ordnung für dich, dass ich hier bin?»
    «Ach so,
völlig. 0 Gott. Ja. Völlig. Jaaa! Ich meine,
du weißt ja, wie gern Walter dich hat. Wir sind schon so lange mit dir
befreundet, aber mir kommt es so vor, als hätte ich mich fast noch nie richtig
mit dir unterhalten. Das ist doch mal eine gute Gelegenheit. Aber du sollst
wirklich nicht das Gefühl haben, du müsstest bleiben, wenn du doch lieber nach
New York zurück möchtest. Ich bin es gewohnt, hier oben allein zu sein. Kein
Problem.»
    Sie schien
sehr lange gebraucht zu haben, um ans Ende dieser Rede zu gelangen. Darauf
folgte ein kurzes Schweigen zwischen ihnen.
    «Ich
versuche nur herauszuhören, was du wirklich meinst», sagte Richard dann. «Ob du
mich wirklich hierhaben willst oder nicht.»
    «Mein
Gott», sagte sie, «das sage ich doch die ganze Zeit, oder? Habe ich das nicht
gerade gesagt?»
    Sie sah
seine Geduld mit ihr, seine Geduld mit einem weiblichen Wesen, dahinschwinden.
Er rollte mit den Augen und nahm ein Stück Kantholz in die Hand. «Ich packe
jetzt hier zusammen und gehe schwimmen.»
    «Es wird
kalt sein.»
    «Jeden Tag
ein bisschen weniger.»
    Als sie
ins Haus zurückging, empfand sie einen krampfhaften Anflug von Neid auf Walter,
der Richard sagen durfte, wie sehr er ihn mochte, und im Gegenzug nichts
Destabilisierendes erwartete, nichts Schlimmeres jedenfalls, als dass er
wiedergemocht wurde. Wie leicht Männer es hatten! Im Vergleich dazu kam sie
sich wie eine aufgedunsene sesshafte Spinne vor, die Jahr für Jahr ihr trockenes
Netz spann und wartete. Auf einmal verstand sie, wie den Mädchen damals zumute
gewesen war, den Mädchen im College, die Walter seinen freien Zugang zu Richard
übelgenommen und sich über seine lästige Gegenwart geärgert hatten. Für einen
Moment sah sie Walter mit Elizas Augen.
    Vielleicht muss ich es tun, vielleicht muss ich es tun, vielleicht muss ich es
tun, sagte sie zu sich selbst, während sie das Huhn wusch und sich einredete,
dass sie es ja nicht ernst meinte. Vom See her hörte sie ein Platschen, und
schon beobachtete sie, wie Richard im Baumschatten auf Wasser zuschwamm, das
noch vom Nachmittagslicht

Weitere Kostenlose Bücher