Franziskus, der neue Papst (German Edition)
steigt stetig, das liegt an dem gewaltigen Zustrom von Einwanderern aus Süd- und Lateinamerika. Sie bringen nicht nur ihren Dialekt, ihre Küche und ihre Tradition mit, sondern auch ihren Glauben. Auf diese Weise mischt sich Lateinamerikas Volksfrömmigkeit mit New Yorker Liberalismus, ein interkultureller und innerreligiöser Schmelztiegel. St. Patrick’s und seine Gläubigen verdeutlichen auf diese Weise viel von den Herausforderungen, vor der die Kirche nicht nur in New York oder den USA, sondern der gesamten Welt steht: das Zusammentreffen von Tradition und Moderne, auch innerhalb der Kirche. Die Veränderung der demografischen Struktur, weg von einer »weißen« hin zu einer »farbigen«, von einer Kirche der »Ersten -« hin zu einer Kirche der »Dritten Welt«. Dort sind Cathedral und Wallstreet, biblische Werte hier und börsennotierte dort, als Frage nach der sozial-ethischen Prägekraft der Kirche im 21. Jahrhundert. Dazu die alte Spannung von Konsum und Katholizismus, zwischen dem, was des Kaiser und dem, was Gottes ist. St. Patrick’s symbolisiert die Aufgabe der Kirche, die globalisierte Welt mit ihren Chancen anzunehmen, gleichzeitig die eigene Identität sichtbar zu machen und nicht in ein weltabgewandtes Nischen-Bekenntnis zu verfallen. Also in der Welt zu sein, ohne von der Welt zu sein. In St. Patrick’s und der Umgebung sieht und spürt man das Aufeinandertreffen unterschiedlicher religiöser Milieus, wie es bereichernd und belastend zugleich sein kann. Die Bischofskirche unweit des Times Square mag nur ein Ausschnitt des Gesamtbildes sein, mehr nicht. Aber sie ist ein guter Ausgangspunkt, um mehr über die Situation der Weltkirche im 21. Jahrhundert zu erfahren.
Der Hausherr der St. Patrick’s Cathedral war dabei, als in Rom der Argentinier Jorge Mario Bergoglio zum neuen Papst gewählt wurde. Timothy Dolan galt zu Beginn sogar als einer der Kandidaten, später avancierten er und seine amerikanischen Kollegen zu einem wichtigen Faktor im Konklave. Die Wahl Bergoglios ist der sichtbarste Beweis dafür, dass der alte Eurozentrismus der Kirche ins Wanken geraten ist. In St. Patrick’s lässt sich das sehr konkret beobachten, jeden Sonntag um 16 Uhr nachmittags zum Beispiel. Dann, wenn die Messe in Spanisch gehalten wird und Gläubige aus Mexiko, aus Puerto Rico oder Argentinien in den Kirchenbänken knien. In New York machen die Hispanics in manchen Vierteln fast fünfzig Prozent aus, ein Fakt, der zur demografischen Lage der Kirche passt. Gut die Hälfte aller Katholiken kommt inzwischen aus Lateinamerika, nur noch ein Viertel in Europa. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhielt es sich genau spiegelverkehrt, damals lebten nur 25 Prozent aller Katholiken außerhalb Europas. Lateinamerika ist zum demografischen Schwerpunkt der Kirche geworden und die Wahl Franziskus ’ ist eine geopolitische Aussage. In Zeiten, in denen mit Brasilien bei den BRICS-Staaten (die Vereinigung der fünf aufstrebenden Volkswirtschaften: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) bereits ein lateinamerikanisches Schwergewicht seine Stellung in der Welt klargemacht hat, ist ein Argentinier auf dem »Stuhl Petri« das Bekenntnis, dass die lateinamerikanische Gesellschaft mit ihren Hoffnungen und Sorgen mehr ins Blickfeld gerät.
Die beeindruckenden Zahlen der lateinamerikanischen Kirche können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie es mehr und mehr schwer hat, sich zu behaupten. Auf dem Subkontinent haben sich in den letzten Jahren neue Problemfelder aufgetan, die die Ortskirchen vor immense Herausforderungen stellen. Das liegt einmal an einer Konkurrenzsituation, die deutlich diffiziler geworden ist. Pfingstkirchen wirken auf viele Gläubige charismatischer und frischer, sie agieren aggressiver und oft auch professioneller, wenn es darum geht, neue Mitglieder zu werben. Eine Statistik besagt, dass in Brasilien, dem Land mit den meisten Katholiken weltweit, jedes Jahr etwa ein Prozent aller Mitglieder austritt oder verstirbt. Der Pentekostalismus profitiert davon in einer Weise, die der katholischen Kirche schwer zu schaffen macht. Bischof Erwin Kräutler führt seit über 30 Jahren Brasiliens flächenmäßig größte Diözese, die Territorialprälatur Xingu, und erlebt den Aufstieg des Pentekostalismus seit Jahren hautnah: »Es gibt viele aggressive fundamentalistische Bewegungen, die starken Zulauf finden. Man muss das auch im gesellschaftlichen Kontext sehen. Die Leute bei uns haben einen sehr geringen
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