Franziskus, der neue Papst (German Edition)
Sehen – Urteilen – Handeln. Dieser Dreischritt ist inzwischen längst international zum Standard geworden, doch es war die Befreiungstheologie, die entscheidende Impulse gab, wenngleich die ersten Gedanken dazu aus Europa, vom belgischen Kardinal Joseph Leon Cardijn, stammten. Der Arbeiterpriester war es, der in den 20er-Jahren die Christliche Arbeiterjugend (CAJ) gründete und das Sehen – Urteilen – Handeln als Leitfaden ausformulierte. Die Befreiungstheologie hat diese Gedanken aufgegriffen und versucht, aus dieser Sicht heraus auf die sozialen Probleme und Herausforderungen zu antworten. Manche Vertreter legten dabei das Evangelium in einer Weise aus, die die christliche Lehre mehr zu politischer Ideologie, fast Agitation werden ließ. Marxistische Gedanken verwoben sich mit christlichen Grundsätzen – bei einigen, wohlgemerkt, längst nicht allen.
Der Streit mit Rom, das Redeverbot für Leonardo Boff, einer der prominentesten Vordenker der Befreiungstheologie, das noch vom damaligen Glaubenspräfekten Kardinal Joseph Ratzinger verhängt wurde, hat viele Gläubige und Geistliche vor den Kopf gestoßen und zahlreiche zum Bruch mit der Kirche getrieben. Doch das Sehen – Urteilen – Handeln, die Basisgemeinden mit ihren fünf Dimensionen (die samaritanische, prophetische, familiäre, liturgische und missionarische Dimension) haben nach wie vor Bedeutung und Gestaltungskraft in Lateinamerika. Es wird interessant sein, wie ein lateinamerikanischer Papst solche Leitfäden integriert und mit europäischer Strategie synchronisiert. In Lateinamerika wiederum versucht die Theologie eigene Wege zu finden, wo sie die europäisch geprägte als nicht adäquat und realitätsfern empfindet. Beispielsweise ist in den letzten Jahren die feministische Theologie beständig einflussreicher geworden, in Basisgemeinden haben Frauen jeher eine entscheidende Rolle gespielt. Sie und andere theologische oder sozial-caritative Strömungen zu stärken, neue Impulse zu geben und gleichzeitig klarzumachen, dass die Realität vor Ort erkannt wird, das hoffen viele Lateinamerikaner von Papst Franziskus. Die stetig größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich und die sich in vielen Ländern zuspitzende soziale Not soll endlich von der Gesamtkirche wahr- und vor allem ernst genommen werden.
Die Kirche in Südamerika steht zudem vor der gewaltigen Herausforderung, ihre Rolle in Politik und Gesellschaft zu klären. Zu klären, das bedeutet heute oft erst einmal aufzuarbeiten. Besonders in den 70er- und 80er-Jahren haben manche kirchlichen Kreise mit Regimen wenn nicht kollaboriert, so sie doch mindestens stillschweigend akzeptiert und toleriert. Franziskus selbst stand als Kardinal am Pranger, seine Rolle ist tatsächlich nicht glasklar.
Aus Sicht mancher Opfer der Diktatur hat die Kirche ihre prophetische Dimension – das Mahnen und Warnen wurde vernachlässigt oder verweigert und das hat zu tiefen Verwerfungen geführt. Und selbst nach dem Fall der Regime ist das Verhältnis von Mächtigen der Kirche und Mächtigen des Staates nicht durchweg von einer konstruktiven Distanz gekennzeichnet: Als Beispiel kann das Erzbistum San Salvador dienen, das ehemalige Bistum eines der populärsten lateinamerikanischen Priester aller Zeiten, Óscar Arnulfo Romero. Der zu Beginn eher konservative Kleriker wurde zur Stimme und dem Gesicht der Befreiungstheologie in El Salvador und dadurch automatisch zum Feindbild des Militärregimes. Seine Predigten fanden nicht nur in El Salvador Beachtung, weite Teile der Welt hörten ihm zu. So auch am 23. März 1980, als Erzbischof Romero an die Armee und die Polizei appellierte: »Kein Soldat ist gezwungen, einem Befehl zu folgen, der dem göttlichen Gesetz widerspricht. Niemand muss ein unmoralisches Gesetz erfüllen. Es ist an der Zeit, dass ihr eurem Gewissen folgt und nicht sündigen Befehlen.« Am Tag danach predigt Romero erneut, diesmal in der Krankenhauskapelle »Divina Providencia«. Dort, direkt am Altar, wird Romero von einem gedungenen Attentäter auf Weisung des Militärs hin ermordet. Die Tat erschüttert die Welt und doch machen es sich kirchliche Kreise bis heute nicht einfach mit der Person des Märtyrer-Bischofs, manche sehen in ihm einen Wegbereiter linker Gruppen. Roberto D’Aubuisson Arrieta, der die Todesschwadronen damals befehligte, wurde nie angeklagt und schon gar nicht verurteilt, er konnte stattdessen sogar zum erfolgreichen Politiker aufsteigen. Die Anerkennung der Kirche für
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