Franzosenliebchen
Häusern der Siedlung, nicht für groß
gewachsene Menschen geeignet. Der Boden bestand aus einem
Lehmgrund, auf dem eng aneinanderliegend rotbraun gebrannte
Ziegelsteine aufgebracht worden waren. Allerdings waren diese nicht
ganz eben verlegt worden, sodass es kleine Stolperkanten gab. Der
Schnaps, die niedrige Decke und diese Kanten waren dann auch die
Ursache, dass Wilfried Saborski ins Straucheln geriet und
schließlich der Länge lang hinschlug. Dabei fiel ihm ein
kleines Döschen aus der Tasche und rollte Hermann Treppmann
vor die Füße. Der bückte sich und hob es auf. Die
Dose war aus Silberblech und auf dem Deckel prangte eine Germania
mit wallenden blonden Haaren. Darunter stand: Gruß vom
deutschen Eck.
Noch im Liegen
streckte Saborski seine Hand aus. »Gib her.«
»Eine
schöne Dose.« Treppmann schüttelte sie und hielt
sie ans Ohr. »Was bewahrst du darin auf?«
»Das geht dich
nichts an«, blaffte Saborski, während er sich
aufrappelte. »Und jetzt her damit.«
»Entschuldigung.«
Treppmann gab seinem Gast dessen Besitz zurück.
Saborski verstaute die
Dose wieder in seiner Hosentasche und erklärte: »Ein
Erbstück meines Vaters. Ich trage sie immer mit mir, wenn ich
in eine Kirche gehe.«
»Warum tust du
das?«
»Weil ich es
geschworen habe.«
»Und was ist
darin?«
»Nichts. Was
soll die Fragerei?«
»Schon
gut«, beeilte sich Treppmann zu versichern. »Hast ja
recht, das geht mich nichts an.«
Er führte
Saborski in die Waschküche, wo ein großer Zuber nicht
nur der täglichen Wäsche, sondern an den Wochenenden und
vor Feiertagen auch der körperlichen Reinigung der Familie
diente.
Wilfried Saborski
lehnte sich an den Bottich. »Also, was willst
du?«
Treppmann atmete tief
durch. »Ich will bei euch mitmachen.«
Sein Gegenüber
sah ihn prüfend an. Dann sagte er: »Kein Problem. Wie du
weißt, treffen wir uns regelmäßig im Karl der
Große. Komm doch einfach dazu.«
»Ich meine nicht
euren als Bibelkreis getarnten Verein, der darauf aufpasst, dass
kein Deutscher mit einem Franzosen redet. Ich meine den richtigen
Widerstand.«
»Richtiger
Widerstand?« Saborski lächelte schief, ließ
Treppmann stehen und ging zurück zur Kellertreppe. Doch er
drehte sich noch einmal um und fragte: »Wer hat dir denn den
Bären aufgebunden?«
»Wilfried.
Bitte! Das bin ich Agnes schuldig. Ihre Mörder laufen frei
herum und sie ist
tot.«
»Tut mir leid,
Hermann. Aber ich kann dir nicht helfen.« Saborski kramte in
seiner Hosentasche, zog die Dose heraus und öffnete sie. Darin
lag, in einem seidenen Tüchlein eingewickelt, eine deformierte
Pistolenkugel. Saborski nahm sie zwischen Zeigefinger und Daumen
und zeigte sie Treppmann. »Mein Vater kämpfte 1870/71
gegen die Franzosen. Er wurde auf den Höhen von Villiers am
30. November 1870 getroffen. Von dieser Kugel hier. Er war schwer
verletzt, Kopfschuss. Aber er hat überlebt. Nur blieb dieses
kleine Ding dummerweise nicht an der Stelle in seinem Kopf, wo es
lange Zeit keinen Schaden angerichtet hatte. Es wanderte langsam
weiter. Erst konnte mein Vater nicht mehr richtig gehen, dann
begann er zu zittern. Später beeinträchtigte die Kugel
hier seine Sprechfähigkeit, schließlich begann er zu
erblinden. Als auch seine Atmung in Mitleidenschaft gezogen wurde,
entschlossen sich die Ärzte zur Operation. Sie bohrten seinen
Kopf auf und suchten nach der Kugel. Sie haben sie
schließlich gefunden. Hinter seinem Ohr. Aber mein Vater hat
die Operation nicht überlebt. Als wir ihn in die Klinik
brachten, hat er mir erzählt, dass er Gott versprochen hat,
nach seiner Genesung regelmäßig zur Kirche zu gehen. Ich
habe dieses Gelöbnis etwas abgewandelt. Immer wenn ich in der
Kirche bin, schwöre ich, nie zu vergessen, dass es eine
französische Kugel war, die meinen Vater getötet
hat.« Saborski legte das Geschoss wieder auf das Seidentuch
und faltete es sorgsam zusammen. Dann verstaute er das
Päckchen in der Dose und sah Treppmann an. »Vielleicht
solltest du dir auch so ein Andenken besorgen.«
Mit diesen Worten
betrat er die Treppe.
12
Mittwoch, 14. Februar
1923
In einem
Fotogeschäft in der Friedrichstraße ließ Peter
Goldstein ein Passfoto von sich machen. Aber erst als er seinen
Dienstausweis zückte und etwas von wichtigen polizeilichen
Aufgaben faselte, konnte er den Fotografen dazu bewegen, das Bild
noch am selben Tag zu entwickeln. Er vertrieb sich die Stunden des
Wartens damit, das Pergamonmuseum zu besuchen, was er
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