Franzosenliebchen
dass die deutsche
Geburtsurkunde ihnen das Recht gibt, zu bestimmen, mit wem sich
andere Deutsche, besonders aber junge Frauen, treffen dürfen
und mit wem nicht.« Marthas Stimme hatte einen zornigen
Tonfall angenommen. »Und wenn diesen pubertierenden
Jünglingen der Umgang missfällt, kann es Vorkommen, dass
sie den betroffenen Frauen auflauern und ihnen gewaltsam die Haare
bis auf die Kopfhaut abschneiden, um sie so zu brandmarken.
Für jeden sichtbar sind sie dann als Franzosenliebchen
denunziert. Und wenn es beim Abschneiden der Haare bleibt, haben
sie noch Glück.«
»Wie meinst du
das?«
»Es soll
Fälle geben, dass Frauen verprügelt worden sind. Aber
über so etwas redet man nicht. Wir sind ja ein einig Volk,
oder? Lisbeth tut gut daran zu verschweigen, dass sie ihrer
Schwester geholfen hat, sich heimlich mit einem Franzosen zu
treffen. Sie hat sicher kein Vergnügen daran, kahl geschoren
durch die Straßen laufen zu müssen, das Kainsmal
Franzosenliebchen auf dem Haupt. Jedenfalls glaubte sie nicht
daran, dass Julian Agnes ermordet hat. Ich im Übrigen auch
nicht.«
»Hast du diesen
Franzosen jemals kennengelernt?«
Martha verneinte.
»Aber Agnes hat mir von ihm erzählt. Sie hat diesen
französischen Soldaten geliebt, Peter. Und sie war sich
sicher, dass Julian sie ebenfalls liebte. Er hat sie nicht
umgebracht.«
Goldsteins seufzte. Er
hatte ja schon vor diesem Gespräch Zweifel an der Beweiskraft
der Indizien gehabt. Und nun? Er konnte noch nicht zurück nach
Berlin reisen. Stattdessen, so entschied er, würde er sich
noch einmal mit Solle unterhalten. »Weißt du, wie die
beiden Kontakt miteinander aufgenommen haben? Agnes Treppmann
konnte ja schließlich schlecht zur französischen
Unterkunft gehen und dort nach Solle fragen.«
»Ja. Julian wird
doch ausschließlich auf dem Bahnhof hier in Börnig
eingesetzt. Wenn Agnes zur Arbeit fuhr oder zurückkehrte,
haben sie sich mit einem vorab verabredeten Zeichen darauf
aufmerksam gemacht, dass sich in einem Papierkorb am
Bahnhofsschuppen ein Umschlag mit einer kurzen Nachricht befindet.
In einem unbeobachteten Moment konnte der Empfänger die
Nachricht dann an sich nehmen.«
»Was für
ein Zeichen war das?«
»Keine Ahnung.
Warum willst du das wissen?«
»Ich möchte
mich mit Solle treffen. Ich muss mit ihm persönlich
sprechen.«
»Gut. Ich werde
mich bei Lisbeth erkundigen.«
»Danke.«
In dieser Nacht
schliefen sie wieder miteinander. Aber es war nicht so impulsiv, so
spontan wie beim ersten Mal, sondern der Austausch der
Zärtlichkeiten bekräftigte eher eine Übereinkunft.
Die Liebesnacht war quasi die Unterschrift unter diesen
Vertrag.
32
Montag, 26. Februar
1923
Drei Tage war es her,
dass ihr Mann verhaftet worden war. Ernestine Schafenbrinck litt
ohnehin oft an Kopfschmerzen. Nun drohte aber eine heftige
Migräneattacke von ihr Besitz zu ergreifen. Außerdem
plagten sie Depressionen und die Sorge um ihren Mann.
Nur einmal hatte sie
ihren Ehemann bisher besuchen dürfen, und das auch nur
für eine halbe Stunde. Er war nur einen Steinwurf weit von
ihrem Haus in der Strafanstalt inhaftiert, so nah und doch
unerreichbar. Bei ihrem Besuch hatte sich Abraham bemüht,
einen zuversichtlichen Eindruck zu machen, und sich überzeugt
gezeigt, dass sich heraussteilen würde, dass er, was den
Sprengstoff und die Flugblätter in seinem Keller anging,
unschuldig war. Tränen liefen Ernestine über das Gesicht,
als sie daran dachte, wie angestrengt ihr Mann die Fassade des
Optimismus hatte aufrechterhalten wollen. Aber sie wusste es
besser. In seinen Augen stand geschrieben, dass er sich Sorgen
machte, Sorgen um sie, nicht um die eigene Person.
Die Franzosen hatten
Schafenbrinck gestattet, seiner Frau eine Vollmacht auszustellen,
damit sie in der Lage war, die dringendsten Geschäfte mit der
Bank, Kunden und Lieferanten abzuwickeln. Schließlich mussten
Rechnungen beglichen, das Personal bezahlt und Einkäufe
getätigt werden. Der Buchhalter in der Kaufhausverwaltung
hatte zwar den Überblick über die verschiedenen
Geschäftsvorgänge, aber selbstverständlich keinen
Zugriff auf die Konten und erst recht nicht auf das
Privatvermögen der Familie. Jetzt rächte sich bitter,
dass Abraham Schafenbrinck gezögert hatte, einen
Stellvertreter und potenziellen Nachfolger aufzubauen, eine
Aufgabe, die eigentlich ein Sohn und Erbe hätte
übernehmen müssen. Aber die Ehe war kinderlos
geblieben.
Und so sah sich
Ernestine Schafenbrinck von einem
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