Franzosenliebchen
Moment auf den anderen
genötigt, in die Rolle einer Geschäftsfrau zu
schlüpfen, eine Rolle, in der sie sich alles andere als wohl
fühlte.
Hausdiener Erwin
meldete den von ihr gewünschten Besuch des Buchhalters der
Firma. Ernestine Schafenbrinck trocknete ihre Tränen, richtete
ihre Kleidung und wartete in der Mitte des Arbeitszimmers auf ihren
Gast.
»Gnädige
Frau«, grüßte Thomas Segburg unterwürfig und
verbeugte sich tief. Der Buchhalter war einen guten Kopf kleiner
als die Kaufmannsfrau, hager und seine spitzen Gesichtszüge
erinnerten an eine Maus. Segburg war seit knapp zwei Jahrzehnten im
Dienst der Schafenbrincks und hatte sich in all den Jahren
äußerlich kaum verändert. »Schrecklich, was
Ihrem Gatten widerfahren ist. Einfach furchtbar.« Segburg sah
hoch. »Sie wollten mich sprechen?«
Die Hausherrin zeigte
auf die Sitzgruppe. »Bitte.«
Segburg versank fast
in den Polstern, als er sich setzte.
»Ich habe Sie
rufen lassen, um mich mit Ihnen zu beraten. Schließlich darf
unser Geschäft in keiner Weise darunter leiden, dass die
Franzosen meinen Mann unschuldig inhaftiert
haben.«
Der Buchhalter nickte
zustimmend.
»Bitte setzen
Sie mich darüber ins Bild, wie wir dastehen und welche
Schritte als Nächstes zu unternehmen sind.«
Segburg machte seinen
Mund auf und zu wie ein Fisch, der auf dem Trockenen liegt, und
fragte dann überrascht: »Wann? Jetzt?«
Ernestine
Schafenbrinck lehnte sich zurück und antwortete mit fester
Stimme: »Natürlich.«
In den nächsten
dreißig Minuten bombardierte sie Segburg mit Begriffen wie
brutto und netto, Aktiva und Passiva, kurz- und langfristigen
Lieferantenkrediten, Forderungen aus Lieferungen und Leistungen
oder Skonto. Hinzu kamen Namen von Lieferanten und Produkten,
Details anstehender Vertragsverhandlungen und schließlich
Zahlen, Zahlen und nochmals Zahlen.
Unsympathisch war der
Buchhalter Ernestine Schafenbrinck schon immer gewesen. Doch je
länger er sie mit seinem Fachkauderwelsch traktierte, desto
mehr veränderte sich das Gefühl von Abneigung zu Abscheu.
Vor ihr hockte eine kleine, graue Maus und mit jedem Wort, das aus
der spitzen Mausschnauze floss, wurde ihr deutlicher bewusst, dass
sie nie wirklich verstehen würde, was den Kaufmannsberuf
ausmachte. Zugleich nahm ihre Verunsicherung zu, bis sie sich
schließlich selbst wie eine Maus fühlte und nach einem
Loch suchte, in dem sie sich verstecken
konnte.
»Und deswegen
müssen wir dringend unser Eigenkapital erhöhen,
gnädige Frau. Gerade in diesen Zeiten sollten wir versuchen,
Kredite zu bekommen. Je nach Rückzahlungsmodalitäten
könnte das für uns …«
Sie stand auf und
sagte entschlossen: »Für heute ist es genug. Vielen Dank
für Ihre Ratschläge, Herr Segburg. Ich werde sie
sorgfältig prüfen und Ihnen dann meine Entscheidung
mitteilen.«
Der Buchhalter erhob
sich mit ungläubigem Gesicht. »Sollte ich Ihnen nicht
besser einen schriftlichen Vorschlag zukommen lassen? Oder gleich
selbst mit der Bank sprechen? Ich kenne den Filialleiter unserer
Hausbank persönlich. Er …«
Ernestine
Schafenbrinck schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Danke für Ihr Angebot. Aber ich werde mich selbst um
alles kümmern. Sie finden sicher allein zu Tür?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sich die Kaufmannsfrau um,
ging gemessenen Schrittes zur Verbindungstür, die das
Arbeitszimmer von den übrigen Wohnräumen trennte, schloss
sie hinter sich und ließ sich stöhnend auf einen der
Stühle im Esszimmers nieder.
Was sollte sie nur
tun? Wenn sie den schrecklichen Kerl eben richtig verstanden hatte,
hing die Finanzierung ihres neuen Kaufhauses in Recklinghausen von
einer Erhöhung des … Wie hatte Segburg das genannt? Ja,
genau. Jetzt hatte sie es wieder: Zur Finanzierung müsse das
Eigenkapital erhöht werden. Aber worum handelte es sich dabei?
Wie ging das vor sich? Es grauste ihr bei dem Gedanken, den
Mäuserich als Berater an ihrer Seite zu wissen. Gab es denn
niemanden, auf den sie sonst bauen konnte?
Sie ging den Kreis der
Menschen durch, mit denen sie gesellschaftlichen Kontakt pflegten.
Da war der Oberbürgermeister, der mittlerweile von den
Franzosen ausgewiesen worden war. Einige Mitglieder des Rates der
Stadt Herne, der Schulrat, ein paar höhere Polizeioffiziere,
die meisten von ihnen waren allerdings ebenfalls ausgewiesen
worden. Ernestine Schafenbrinck zermarterte sich den Kopf, aber
ihr wollte
keiner einfallen, den sie in Geschäftsdingen
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