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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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umarmt sie. »Ich bin ein Raubvogel, und meine Federn werden dich schützen. Sieh mal, da schauen sie raus.«
    Am stärksten beeindruckt Leonora das Bild mit dem blinden Schwimmer, den senkrechte Streifen gefangen halten, kein Wasser, sondern Gitterstäbe. Oder sind es elektrische Kabel, und der Strom wird ihn töten? Wird das Wasser den Schwimmer, ganz gleich, wie gut er schwimmt, zu ertränken versuchen?
    »Wer wird gerettet? Wirst du mit mir ins Wasser springen?«
    »Ich habe einmal einen blinden Schwimmer gesehen, der nie von seiner Bahn abkam.«
    Eine Abbildung elektromagnetischer Strömungen in einem wissenschaftlichen Werk habe ihn zu diesem Bild inspiriert, erzählt ihr Max. Er glaubt, dass »wir alle blind gegen den Strom schwimmen«.
    Die surrealistischen Freunde machen Leonora rasch zu ihrer Heldin. Nush Éluard nimmt sie bei der Hand. »Ich bin die Frau eines Dichters und lebe jede Minute, als wäre es meine letzte«, erklärt sie ihr. Und Lee Miller versichert: »In diesem Leben ist alles erlaubt, wenn du weißt, wie du es anstellen musst.« Leonora, jung und hübsch, hat einem großen Vermögen und einer beneidenswerten gesellschaftlichen Stellung den Rücken gekehrt. Sie verkörpert das, was André Breton Amour fou nennt. Leonora durchkreuzt sämtliche Erwartungen, setzt sich mit dem, was sie tut, über die Konventionen des Großbürgertums hinweg. »Du bist sehr weit gegangen«, bestätigt ihr Lee Miller, »schau dich nicht um. Marie Berthe, die Arme, ist schon zur Salzsäule erstarrt.«
    Bretons Anhänger gehen bis an die Grenzen ihrer selbst, bis an die Grenzen der Gesellschaft. Sie haben sich eine Wahrheit jenseits der Wirklichkeit angeeignet – den Surrealismus – und setzen alles daran, Männer und Frauen von dem zu befreien, was sie daran hindert, sie selbst zu sein. Sie wollen tun, wozu sie Lust haben. Die in den Grenzen der Tradition verhaftete Kunst ist für sie wie ein Tier im Käfig, doch ein Lebewesen einzusperren bedeutet, ihm seine Würde und Größe zu rauben, und im Käfig der traditionellen Kunst ist wenig Platz für Phantasie.
    »Paris verabscheut uns«, seufzt Louis Aragon, verärgert über die Zensur gegen sein Werk Irenes Möse ,für das er sich erst an allen Elftausend Ruten von Apollinaire abarbeiten musste.
    »Perfekt!«, erwidert Breton. »Ich betrachte das als eine große Ehre und eine Bestätigung unserer Sache. Die braven Bürger mögen uns hassen, bald aber werden sie zugeben müssen, dass wir eine undefinierbare Anziehungskraft besitzen, die sie erregt. Vorgestern in der Galerie hat eine Dame zu mir gesagt, sie sei noch einmal zurückgekommen, um sich Ernsts Bilder anzuschauen, weil deren Farbe und Bewegung sie beeindruckt hätten.«
    Unter allen ausgestellten Werken sind es die von Max Ernst, die am klarsten eine spirituelle Dimension aufweisen. Er macht, was er will, und er wird bewundert. Leonora ist seine Königin, und Marie Berthe bleibt als Opfer zurück. Surrealisten halten nichts von Treue.
    Für Max Ernst bedeutet Beschimpfung Bestätigung, zugleich aber verachtet er die, die ihn nicht verstehen. Mit dem Bild La fessée , auf dem die Gottesmutter das Jesuskind versohlt, hat er seinen Vater gekränkt. Er malt seine Wut, befreit sich von den Albträumen seiner Kindheit. Als Jugendlicher hat er in einer Kölner Kunstgalerie miterlebt, wie ein junger Mann einem älteren jedes einzelne Bild erläuterte. »Was ist das denn?«, rief der Alte empört. »Ich bin jetzt neunundsiebzig Jahre alt und habe mich niemals in meinem ganzen Leben von einem Bild derart beleidigt gefühlt.« »Wenn Sie wirklich neunundsiebzig sind«, erwiderte der junge Mann ärgerlich, »sollten Sie allmählich den Schritt in ein besseres Leben tun.«
    »Sie hätte ich gern als Freund«, hat Max zu dem jungen Mann gesagt.
    Der hat ihm die Hand gereicht und sich vorgestellt: »Mein Name ist Hans Arp. Man sollte Schluss machen mit der Kunst, so wie der Krieg mit der Zivilisation Schluss gemacht hat.«
    »Und wie?«
    »Mit Schrecken, mit Wut.«
    »Ist der Dadaismus nicht auch Mitgefühl?«
    »Doch, aber niemals mit der Vergangenheit.«
    Arp war der Erste, der behauptete, Kreativität werde am stärksten durch den Zufall stimuliert. Nachdem er sich monatelang mit einer Zeichnung herumgeplagt hatte, zerriss er sie schließlich und warf die Papierschnipsel in die Luft, und als sie am Boden angekommen waren, stellte er fest, dass sie genau das Bild ergaben, nach dem er gesucht hatte. Er klebte die

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