Frau des Windes - Roman
Welt zu retten, und warum statt ihrer der Holländer Van Ghent eingesperrt werden müsste.
Don Luis zitiert sie in sein Sprechzimmer und bittet sie, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Ich habe übersinnliche Fähigkeiten«, sagt Leonora, »große Fähigkeiten. In den Straßen von Madrid habe ich erraten, was sich hinter den Werbeplakaten verbarg, und genauso war es mit dem Inhalt der Konservendosen. Wenn ich ›Amazon Company‹ oder ›Imperial Chemical Industries‹ lese, kann ich sogar die bebauten Felder sehen und ihre Qualität kontrollieren. Und wenn das Telefon klingelt und ich mich melde, am anderen Ende aber keiner antwortet, weiß ich trotzdem, wer es ist. In Madrid konnte ich in jedem beliebigen Café und in der Lobby des Hotel Roma die Absicht der Leute an den Schwingungen ihrer Stimme erkennen. Selbst wenn ich im Speisesaal mit dem Rücken zur Tür stand, wusste ich, wer hereinkam, ob Catherine, Michel oder Van Ghent und sein Sohn.«
»Fahren Sie fort«, bittet sie der Arzt.
»Außerdem habe ich alle Sprachen verstanden, sogar Isländisch. In solchen Augenblicken habe ich mich selbst bewundert und verehrt, weil ich so allmächtig war – alles steckte in mir. Ich war stolz auf mich, weil meine Augen auf wunderbare Weise zu Sonnensystemen geworden waren und meine Bewegungen zu einem einzigen großen, freien Tanz, und ich, die zu diesem Tanz gehörte, war im Begriff, die Stadt zu retten. Wenn ich in Madrid das Lied Ojos verdes hörte, wusste ich, dass es ein Zeichen aus dem Kosmos war, denn auch Gerards Augen sind grün, und die von Alberto, von Michel Lucas, der mich aus Saint-Martin d’Ardèche herausgeholt hat, und die eines jungen Argentiniers, der mich im Zug freundlich angeschaut hat.«
»Können Sie Ihre Reise von Saint-Martin d’Ardèche bis hierher skizzieren?«, möchte Morales wissen und bittet sie, die Strecke von Frankreich nach Spanien aufzuzeichnen.
Leonora versucht es, erfolglos. Don Luis nimmt ihr den Stift aus der Hand und zeichnet die Strecke rasch selbst nach, und in die Mitte des Blattes schreibt er ein M für Madrid. In diesem Augenblick hat Leonora das Gefühl, zum ersten Mal wieder bei klarem Bewusstsein zu sein: Das M bezieht sich auf sie und nicht auf die Welt. Sollte es ihr gelingen, ihre Reise zu rekonstruieren, könnte sie die Verbindung zwischen ihrem Geist und ihrem Körper wiederherstellen.
Vater und Sohn Morales sind die Herren des Universums und nutzen ihre Allmacht, um Schrecken zu verbreiten. Sie wird sie vernichten und ihre Mitinsassen befreien.
Am nächsten Tag steht nachmittags ein Unbekannter mit einem Arztkoffer in der Hand an ihrem Bett.
»Ich komme, um Ihnen Blut abzunehmen, fürs Labor. Don Luis wird gleich hier sein.«
»Ob Sie oder Don Luis«, antwortet Leonora, »ich empfange immer nur einen Arzt und werde nicht akzeptieren, dass man mir unter irgendeinem Vorwand eine Spritze setzt.«
Der Mann mit der Arzttasche versucht, sie umzustimmen, Leonora beschimpft ihn. Als sie auf ihn losgehen will, verlässt er den Raum.
»Ich gehe«, verkündet Leonora, als Don Luis das Zimmer betritt.
Mit sanften, schmeichelhaften Worten erklärt er ihr den Zweck der Blutabnahme.
Leonora versucht, etwas zu erwidern, aber erneut kommen nur Hitler und Franco, deren infames Bündnis und die Bombenangriffe aus ihrem Mund. Sie weiß, wie man den Krieg beenden kann, und hat jetzt sogar einen Verbündeten, Alberto, ihren Geliebten, den Arzt, der draußen auf sie wartet.
»Wo ist Alberto? Alberto ist gekommen, um mich zu retten. Alberto, Alberto liebt mich! Alberto!«
Plötzlich betreten José, Santos, Frau Asegurado und Piadosa den Raum, eine weiße Lawine überrollt sie und begräbt sie unter sich: Zwei Hände drücken ihre Beine auf das Bett, jemand hält einen ihrer Arme fest.
»Warum misshandeln Sie mich? Verstehen Sie nicht, dass ich eine Stute bin?«, kann sie gerade noch sagen, bevor die Spritze in sie eindringt.
Leonora hustet, dann schreit sie. Ihre Muskeln ziehen sich zusammen, Krämpfe durchzucken Bauch und Brust, ihr Kopf fliegt in den Nacken, ihr Kiefer springt so weit auf, dass er sich beinahe ausrenkt, ihr Mund verzerrt sich zu einer grässlichen Grimasse.
»Passen Sie auf, dass sie sich nicht zu sehr zurückbiegt«, befiehlt Luis Morales und zückt sein Stethoskop, um sie abzuhorchen. Ihr Herzschlag hat sich so rasend beschleunigt, dass die Gefahr eines tödlichen Herzkrampfes besteht.
Immer noch halten Frau Asegurado, José und Santos sie an Armen
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