Frau des Windes - Roman
Insel leben, immer dieses ganze Wasser, der Nebel, die Poesie … Keine Sorge, in fünf, sechs Tagen lässt die Wirkung nach.«
»Was erlauben Sie sich!«, ruft Leonora empört.
»Und Sie, kleine Engländerin, wie haben Sie es geschafft, sich so zu zerstören?«, erwidert José lächelnd. Er verurteilt sie nicht, bittet nur um eine Erklärung.
Als Leonora durch den Schmerz im Oberschenkel und das Gespräch mit José ihr klares Bewusstsein zurückerlangt, merkt sie, dass sie wieder sauber und mit frischem Nachthemd in ihrem Bett liegt.
»Wie sehe ich aus?«, fragt sie José.
»Besser.«
»Und vorher, wie sah ich vorher aus?«
»Hässlich. Die Krämpfe machen hässlich. Erst waren es Verzerrungen im Gesicht, dann auf Ihrem ganzen Körper.«
»Ich will kein Mitleid, ich hasse Mitleid«, antwortet Leonora ärgerlich.
»Glauben Sie mir, hier in Spanien brauchen wir alle Mitleid. Nachdem wir uns gegenseitig umgebracht haben, ist Mitleid das einzig Richtige.«
Frau Asegurado ist eine breitschultrige, stämmige Frau mit großem Kopf. Sie hat kräftige Hände, ein breites, flaches, aber straffes Gesicht. Die Worte kommen aus ihrem Mund wie Steinwürfe.
Selbst die fügsamsten Insassen der Villa Covadonga müssen Demütigungen ertragen. Gehorsam soll sie zur Erlösung führen. Vater und Sohn Morales zwingen sie zu essen, wenn sie keinen Hunger haben, zu schlafen, wenn sie nicht müde sind, und zu jeder beliebigen Tageszeit verordnen sie ihnen ein kaltes Bad.
»Ich will nicht von mir selbst befreit werden«, sagt Leonora zu Luis Morales, »von Ihnen will ich mich befreien.«
Während Josés Nachtwache ist Leonora niedergeschlagen. Don Luis’ Geist hat Besitz von ihr ergriffen und beherrscht sie. Sie kann sein gewaltiges Verlangen hören, sie zu vernichten. Ein fremder Körper steckt in ihrem eigenen und spannt ihre Haut zum Zerreißen. Sie muss aus Santander verschwinden und fleht José an, sie nach Madrid zu begleiten, weg von Don Luis.
»Es wäre unvernünftig, nackt zu reisen«, antwortet der Krankenpfleger.
Er reicht ihr ein Laken und einen Stift, während sie wieder und wieder »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« deklamiert.
In das Laken gehüllt, schleppt Leonora sich mit ihrem schmerzenden Bein bis auf den Flur. Da taucht Don Luis in Begleitung von Santos und Frau Asegurado auf. Leonora glaubt, sie könne die drei mit ihrer hypnotischen Kraft erstarren lassen, doch die packen sie und schleifen sie zurück in ihr Zimmer.
Es muss Sonntag sein, denn sie hört Glockengeläut und Pferdegetrappel. Maßlose Sehnsucht nach Winkie überkommt sie. Wäre ihre Stute hier, würde sie mit ihr davongaloppieren. Draußen reiten Leute vorbei, dabei ist sie doch mehr als alles andere eine Amazone. Aber mit der äußeren Welt zu kommunizieren scheint unmöglich, wer würde einer nur in ein Laken gehüllten und mit einem Bleistift bewehrten Nackten zu Hilfe kommen.
»Das einzige spanische Wort, das diese Frau sagen kann, ist jardín «, beschwert sich die Krankenschwester bei Don Luis, »es ist wirklich lästig, ihr jedes Mal hinterherlaufen zu müssen, wenn sie in den Garten rennt. Ich bin Krankenschwester, keine Langstreckenläuferin. Jardín, jardín , jammert sie den ganzen Tag.«
»Ja, das ist die Engländerin in ihr. Ich werde ihr ein Beruhigungsmittel geben.«
»Sie nimmt die Medikamente weniger bereitwillig an als die anderen Patienten. Alles stellt sie in Frage, Doktor. Und wenn wir im Garten sind, rennt sie zuerst wie eine Besessene durch die Gegend, dann streckt sie sich auf dem Boden aus.«
»Falls das ihren geistigen Zustand ein wenig verbessert, lassen Sie sie ruhig. Sollte sie anfangen zu toben, spritzen wir ihr nochmals Cardiazol, eine zweite Krampfbehandlung wird sie stabilisieren, ich habe das bereits mit meinem Vater besprochen … Die Patientin hat weder Disziplin noch Kontrolle gelernt, man hat sie stets machen lassen, wozu sie Lust hatte, dadurch ist sie zu einer exzentrischen Spinnerin geworden. Die Deutschen dagegen verstehen es, ihren Bürgern Disziplin beizubringen, zum Wohl der Allgemeinheit.«
Als Luis Morales Leonoras Zimmer betritt, liegt das Lächeln eines Inquisitors auf seinen Lippen.
»Was für ein Tag ist heute?«, fragt der Arzt.
»Montag, glaube ich.«
»Was für ein Tag war gestern?«
»Sonntag, ich habe Glocken läuten hören.«
»Wie alt sind Sie?«
»Keine Ahnung, ich fühle mich sehr alt.«
»Wann sind Sie hierhergekommen?«
»Vor Jahrhunderten.«
»Wie war
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