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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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und Beinen fest. Es hat Patienten gegeben, die unter der Wirkung von Cardiazol Knochenfrakturen erlitten haben, einmal ist sogar einer vom Bett gefallen und hat sich die Wirbelsäule gebrochen. Leonora zuckt und krümmt sich heftiger als viele andere, ihre Brust bebt.
    »Sie ist eben noch sehr jung«, sagt José. »Sie ist kräftig gebaut und hat stramme Beine mit langen Oberschenkeln, sicher treibt sie Sport.«
    Luis Morales nickt beipflichtend.
    »Ein Jammer«, fügt José hinzu, »so eine hübsche Frau.«
    Ihr Innerstes bäumt sich auf, und mit atemberaubender Geschwindigkeit steigt Leonora wieder an die Oberfläche. Über sich erblickt sie erneut ein blaues Augenpaar, das starr auf sie gerichtet ist.
    »Ich will nicht!«, schreit sie. »Ich will diese schändliche Kraft nicht! Ich wachse, ich wachse, ich habe Angst!«
    Ein Riemen schneidet ihr in die Stirn, durch ihren Körper schießt ein Schmerz, sie krümmt sich, dann bleibt sie reglos liegen. Ein Gedanke durchzuckt sie: ›Der Tod wäre das Beste, was mir jetzt passieren könnte.‹ Strom sprüht Funken. ›Das sind meine Neuronen. Ich werde völlig verblöden.‹
    Später erzählt ihr José, der Anfall habe mehrere Minuten gedauert, ihr ganzer Körper habe sich unter grauenvollen Zuckungen verformt, Arme, Handgelenke, Brüste, Bauch.
    »Wissen Sie, es war so: Ihr Kopf hat gezischt, Ihre Haut ist gerissen, wir mussten Ihnen einen Lappen zwischen die Zähne stopfen, damit Sie sich nicht die Zunge abbeißen. Erst als die Krämpfe einsetzten, haben Sie aufgehört zu schreien. Bei dieser Behandlung verliert man jede Kontrolle über den eigenen Körper, man bekommt Durchfall, man will etwas sagen, stößt aber nur unverständliche Laute aus.«
    »José, wenn Sie die Wahl hätten und Arzt wären, würden Sie dann eine derartige Therapie anwenden?«
    »Es ist die übliche Therapie bei unheilbar Kranken.«
    »Unheilbar Kranken?«
    »Ja. In Ihrer Akte steht ›unheilbar‹.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Es bedeutet, dass gegen Ihren Wahnsinn nichts hilft.«

Der Wahnsinn
    Wenn sie spricht, wird sie sich vielleicht die Zunge verrenken oder die Kehle zerreißen. Mehrere Tage und Nächte liegt Leonora nackt auf dem Bett, von Mücken geplagt. Sich die juckenden Stiche nicht kratzen zu können ist eine Qual. An ihren Schweiß und den Gestank ihres Urins gewöhnt sie sich, aber die Schwellung am Oberschenkel erträgt sie kaum. Auch der Rücken tut weh, die Beine sind bleischwer, die Schläfen pochen, und im Kopf, den ein Diadem zusammenzupressen scheint, haben sich irrsinnige Schmerzen ausgebreitet.
    »Die Nebenwirkungen werden noch einige Tage anhalten, deshalb lassen wir Sie hier liegen«, sagt Frau Asegurado, die sie tagsüber bewacht. »Aber es lohnt sich, das in Kauf zu nehmen, denn der positive Effekt von Cardiazol ist enorm.«
    José übernimmt die Nachtwache. Er zündet sich eine Zigarette an und schiebt sie ihr zwischen die Lippen, damit sie ein paarmal daran ziehen kann. Dann bringt er ihr eine Zitrone, die Leonora samt Schale aufisst, weil die Säure den von den Krämpfen zurückgebliebenen bitteren Geschmack vertreibt. Mit einem feuchten Handtuch wischt José ihr den Schweiß ab, und Leonora ist ihm dankbar dafür. Er ist gut gelaunt, ihr Gestank scheint ihn nicht zu stören.
    Nach vier Tagen kommt Piadosa mit einem Teller Gemüse und Ei ins Zimmer und füttert sie mit dem Löffel, zieht aber plötzlich die Hand zurück, aus Angst, die Engländerin könnte sie beißen. Leonora mag Piadosa, sie wäre unfähig, sie anzugreifen.
    »Meine Zähne tun weh, ich kann nicht beißen.«
    »Das ist normal und geht allen so nach dieser Spritze; sie reizt das Zahnfleisch. Aber das legt sich wieder.«
    Den dicken Santos stört es, dass Leonora ihn beobachtet.
    »Was sehen Sie mich denn so an, englisches Fräulein?«
    »Ich schaue mir die Menschen um mich herum genau an, ich habe ja sonst nichts zu tun. Und ich kann auch alles ertragen, außer dieser Schwellung, die mein linkes Bein lähmt. Schnallen Sie mir bitte die Hand los, damit ich den Schmerz lindern kann, ich habe nämlich immer kühle Hände.«
    Santos stellt sich taub. Dafür schnallt José sie nachts los, und kaum legt sie ihre Hand auf das Bein, schwellen der Schmerz und die Entzündung ab, wie sie es vorausgeahnt hat.
    »Die Spritze ins Bein haben Sie nur bekommen, damit Sie nicht laufen können. Das machen wir immer so bei den Unkontrollierbaren. Engländer werden bestimmt deshalb verrückt, weil sie auf einer

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