Frau des Windes - Roman
Saint-Martin d’Ardèche?«
Plötzlich regen sich die Gegenstände vor Leonoras Augen, die Stühle wackeln, als würden sie gleich umkippen.
»Ich weiß nicht«, antwortet sie. »Ich bin abgereist, und plötzlich ist alles verschwunden.«
»Und Max?«
»Der ist auch verschwunden. Sie haben ihn weggebracht, irgendwohin.«
»Wer?«
»Ein Gendarme mit einem Gewehr, glaube ich.«
»Und Max hat sich nicht widersetzt?«
»Er kannte das schon. Sie hatten ihn schon einmal abgeholt.«
»Woher sind Sie, Leonor?«
»Nirgendwoher.«
»Erinnern Sie sich, aus welchem Land Sie kommen?«
»Nein.«
»In welcher Sprache unterhalten wir uns?«
»Auf Spanisch, nehme ich an.«
»Nein, Leonor, auch wenn meine Aussprache nicht die allerbeste ist, ich spreche Englisch. Welche Sprachen sprechen Sie?«
»Englisch und Französisch.«
»Was haben Sie vorhin gegessen?«
»Es war wohl nichts Besonderes, sonst könnte ich mich daran erinnern.«
Don Luis lächelt.
»Und Ihre Eltern?«
»Ich weiß nicht, wo sie sind, vielleicht in Hazelwood.«
»Wie sind Ihre Eltern?«
»Ich nehme an, sie tragen Regenmäntel, öffnen ihre Schirme, trinken um fünf Uhr Tee …«
»Versuchen Sie, sich an sie zu erinnern.«
»Ich kann nicht.«
»Und Ihre Brüder?«
»Die sind in der Armee.«
Luis Morales schaut sie aus seinen tiefblauen Augen an.
»Leonor, erzählen Sie mir von sich.«
»Der Krieg …«
»Nein, erzählen Sie mir nichts vom Krieg«, unterbricht er sie, »sagen Sie mir etwas über Ihre Person, über Ihr Leben.«
»Von sich selbst zu sprechen ist unerzogen. Lassen Sie uns nicht zu persönlich werden. Kriege wird es erst dann nicht mehr geben, wenn wir zum Wissen gelangt sind und begreifen, dass die große Unordnung das Werk Gottes und seines Sohnes ist. Sehen Sie doch nur, Doktor, in welchem Chaos sich die Gegenstände befinden, die auf diesem Tisch liegen, es ist dasselbe Chaos, das auch im Räderwerk der Menschheitsmaschine herrscht und die Welt in Angst, Krieg, Elend und Unwissenheit gefangen hält.«
»Ja, ich verspreche Ihnen, dass wir die Welt in Ordnung bringen werden, aber fangen wir erst einmal bei Ihnen an. In welchem Alter hatten Sie Ihre erste Menstruation, Leonor?«
»Über so etwas spreche ich nicht.«
»Ich bin Ihr Arzt.«
»Mond und Sonne sind sich begegnet, sehen Sie, auf diesem Tischchen werde ich verschiedene Sonnensysteme anordnen, die genauso perfekt und vollständig sind wie Ihres …«
»Welches ist denn mein Sonnensystem?«
»Das, was Sie so ungestraft über unseren Köpfen kreisen lassen und was unsere Krämpfe verursacht.«
»Finden Sie mich aggressiv?«
»Aggressiv? Was Sie tun, ist die unmenschliche Tat eines autoritären, nationalsozialistischen, faschistischen, rassistischen Systems.«
Leonora beginnt zu zittern.
»Beruhigen Sie sich, ich versuche doch nur, Ihnen zu helfen. Wann hat Ihre Menstruation begonnen?«
»Europa hat mein Blut in Energie verwandelt. Mein Blut ist weiblich und männlich zugleich, es ist mikrokosmisch, Teil des Universums, denn es ist der Wein, den ich Sonne und Mond zu trinken gebe. Ich habe selbst Wein hergestellt, ich weiß alles über Weinreben, und so wie ich meine Trauben zerstampft habe, werde ich auch die Deutschen in Frankreich, Spanien und England zerstampfen.«
»Das bezweifle ich nicht«, antwortet Luis Morales in beschwichtigendem Ton, »Frauen geben ihr Leben für die Menschheit hin. Wenn es nach ihnen ginge, gäbe es gar keine Kriege. Trösten Sie sich, die Söhne sind für Gott, Spanien und den König gefallen!«
»Hören Sie, ich glaube nicht an Gott, ich habe auch keine Söhne und erst recht kein Vaterland, und der König ist ein Idiot. Ich hoffe, ich komme hier wieder raus, falls Sie und Ihr Vater es mir erlauben.«
»Das hängt davon ab, wie gut Sie sich benehmen«, antwortet der Arzt.
»In diese kleine Dose habe ich Franco gesteckt und ein Stückchen Kot danebengelegt. Schauen Sie, es ist schon trocken.«
Luis Morales blinzelt, seine blauen Augen springen nicht mehr ganz so stark aus den Höhlen.
»Sagen Sie mir bitte, was Ihr Vater für ein Mann ist.«
»Mein Vater ist das beste Beispiel für einen Durchschnittsmenschen.«
»Und Sie, akzeptieren Sie ihn?«
»Er ist ein sittlicher, aufrechter, toleranter Mann, der sich an das klammert, was er für normal oder rational hält. Und er versteht mich nicht.«
»Versteht er Ihre Brüder?«
»Ja, weil sie genau das tun, was er will.«
»Aber Ihr Vater ist kein schlechter Mensch, das
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