Frau des Windes - Roman
Glasscheiben in den Raum fallen.
»Kommen Sie heraus, sonst kriegen Sie einen Sonnenstich.«
»Geben Sie mir Papier und Stift.«
Schreiben könne sie, wenn sie draußen sei, sagt die Krankenschwester, aber Leonora setzt sich durch und bekommt ein Blatt Papier. Darauf schreibt sie: ›Ich bin Sonne und Mond, ich bin Mann und Frau, ich bin Tag und Nacht, es wird keinen Krieg mehr geben, denn alle wissen jetzt, was Krieg ist.‹
»Bringen Sie diese Botschaft bitte Don Luis.«
»Erst bekommen Sie Ihr Essen, danach gehe ich zu ihm.«
Cardiazol zwingt zum Gehorsam und erleichtert Verzicht.
Unten ist das Gelobte Land, die Ankunft im Garten Eden, Jerusalem, das Tor zur Freiheit. Die beiden Morales sind Gottvater und sein Sohn. Sobald sie wieder klar im Kopf ist, werden ihre Pfleger sie nach Unten bringen, als dritte Person der Dreifaltigkeit, denn eine Dreifaltigkeit ohne Frau ist sinnlos.
»Und die Frau? Ich muss die Frau sein. Der Heilige Geist ist eine Taube.«
Von ihrem Schrank aus schwingt Leonora sich taubengleich in die Luft.
Frau Asegurado bringt ihr die Gegenstände, die bei ihrer Ankunft beschlagnahmt wurden.
»Ich muss anfangen, damit zu arbeiten, und Sonnensysteme zusammenstellen, um den Lauf der Welt zu ordnen.«
Ein Häufchen französischer Münzen stellt den durch Habgier verschuldeten Sündenfall des Menschen dar. Ihre tintenlose Feder ist die Intelligenz, ihre beiden Fläschchen Kölnischwasser sind die Juden und die Nazis. Ihr Döschen mit Gesichtspuder der Marke Tabu mit dem schwarz-weißen Deckel ist die Verfinsterung. Zwei Cremedöschen sind Mann und Frau, ihre Nagelfeile ein Talisman. Und ihr Lippenstift von Tangee könnte die Begegnung von Farbe und Wort sein.
Auf dem Boden liegen ihre Körperteile, aber sie weiß nicht, wie sie sie zusammensetzen soll, noch, was zu tun ist, damit nicht wieder jeder von ihnen sich in eine andere Richtung davonmacht: der Arm in die Ecke, das rechte Bein auf den Flur, der Kopf aufs Bett.
»Sie schwitzen ja, beruhigen Sie sich«, sagt Frau Asegurado nach einer Weile.
Leonora überkommt eine unbändige Lust zu fliehen, sie, die Stute, beginnt zu galoppieren, bis Frau Asegurado wütend nach Santos ruft und beide Leonora einfangen.
»Setzen Sie sich hin und ruhen Sie sich aus.«
Auch Luis Morales kommt verärgert aus seinem Büro.
»Gönnen Sie uns mal eine Verschnaufpause. Wir wissen ja, wie unglaublich flink Sie sind, aber wir können Sie unmöglich jede Sekunde überwachen.«
»Don Luis, heute Nacht habe ich geträumt, ich wäre im Bois de Boulogne und würde mir von einem Hügel aus einen Pferdemarkt anschauen. Ich wartete darauf, dass zwei große, aneinandergebundene Pferde über den Zaun springen und zu mir kommen würden, und als sie schließlich herangaloppierten, waren sie nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt, denn ein weißes Fohlen hatte sich zu ihnen gesellt und sank vor meinen Füßen sterbend zu Boden. Das Fohlen war ich selbst.«
»Die einzigen Pferde, die wir hier haben, sind die der Reiter, die sonntags in unseren Park kommen. Gehen Sie lieber wieder in Ihr Zimmer«, antwortet der Arzt.
Leonora stellt sich auf Abwehr ein. Sie schließt die Augen, um dem unerträglichsten aller Schmerzen, dem Blick der anderen, auszuweichen.
Stundenlang hält sie die Augen geschlossen. So büßt sie für ihr Exil vom Rest der Welt, es ist das Zeichen für die Flucht aus Ägypten – so nennt sie den Pavillon Covadonga – nach China, ins Sonnenzimmer. Mit geschlossenen Augen dazuliegen erlaubt ihr auch, die Qualen der zweiten Cardiazolspritze besser zu ertragen, und davon erholt sie sich so rasch, dass sie am dritten Tag zu Frau Asegurado sagt:
»Ziehen Sie mich an, ich muss nach Jerusalem, um dort zu erzählen, was ich gelernt habe.«
Die Krankenschwester begleitet sie in den Park. Leonora lässt die Villa Pilar und den Pavillon des Fürsten von Monaco mitsamt dem Geklapper seiner Schreibmaschine hinter sich. Je weiter sie geht, umso schöner wird die Landschaft, weil sie sich Unten nähert.
»Ich habe gesiegt«, sagt sie zu der Deutschen.
Wenn sie auf den Klodeckel steigt, kann sie vom Badezimmerfenster aus den Seefriedhof sehen, in dem Don Marianos Tochter Covadonga bestattet wurde.
Leonora wird weiterhin von Piadosa und Frau Asegurado betreut. Don Luis sagt ihr, vorerst brauche man ihr kein Cardiazol mehr zu spritzen.
»Dieses Haus wird Ihr Heim sein«, fügt er hinzu, »übernehmen Sie Verantwortung dafür.«
»Irgendwann konnte ich sogar
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